Bewertung: 5

Andreas Steinhöfel – Die Mitte der Welt

Bewertung: 5 Kronen

 

Die Geschichte rankt sich um die Bewohner des Anwesens »Visible«, eine riesige Villa am Rande einer deutschen Kleinstadt. Dort leben Glass, eine junge Mutter, Amerikanerin, und ihre Zwillinge Dianne und Phil. Er ist die Hauptperson, der ICH-Erzähler.

Die Mutter erfreut sich dank ihrer häufig wechselnden Liebhaber eines zweifelhaften Rufes. Die Kinder werden Hexenkinder genannt, Glass spottet die Leute auf der anderen Seite des Flusses „die kleinen Leute“. So wachsen die Kinder als Aussenseiter auf, gestützt aber durch die bedingungslose Liebe ihrer Mutter und der Freundschaft von Tereza, die die kleine vaterlose Familie durch dick und dünn begleitet und mit Rat und Tat zur Seite steht.

Phils erzählt von seiner Umwelt zieht so den Leser schnell in seinen Bann. Die Kindheit und Jugend des Protagonisten wird in verschiedenen Episoden erzählt. Oft verlässt er die Gegenwart und blendet zurück, so dass man teilhaben kann an den Abenteuern der Zwillinge, den Kämpfen, den Tränen und auch den Freunden, die auf Visible kommen und gehen.

Die tiefe Freundschaft, die Phil mit Kat seit ihrem gemeinsamen Spitalaufenthalt (sie waren beide Löffelchen in der Hals-Nasen-Ohrenklinik) verbindet, steht eine schwere Bewährungsprobe bevor, als ein neuer Schüler, Nicholas, die Szene betritt. Er schlägt ein wie eine Bombe, alle bemühen sich um ihn, und Phil, er verliebt sich.

Phil geht nun auf die Suche nach Liebe und Sicherheit, und zeigt dem Leser die Unvereinbarkeit der beiden Dinge. Dass die Liebe einem Jungen gilt, bleibt dabei nebensächlich. Hier geht es vielmehr um den Wandel von Art und Intensität der Beziehungen zwischen Menschen, die alle, jeder in seiner speziellen Eigenart, ein Leben als Aussenseiter führen.

Über den Autor

1962 in Battenberg geboren, wuchs in Oberhessen auf.
Wollte Lehrer werden und studierte Englisch und Biologie.
Lebenskrise mit 26, sattelte um zu englischer Literatur und Medienwissenschaften.
Während des Examens schrieb er sein erstes Jugendbuch.
Arbeitet viel als Übersetzer, redigiert Comics und schreibt für TV und Rundfunk.

Für „die Mitte der Welt“ erhielt er den Buxtehuder Bullen und war auf der Auswahlliste des Deutschen Jugendbuchpreises 1999.

Diskussion zum Thema

Gräfin 1: Sie hat dieses Buch ausgelesen, weil sie es vor einiger Zeit als Hörbuch genossen hat. Die Geschichte ging ihr nicht aus dem Kopf und sie wollte wissen, ob sie noch genauso wirkt, wenn sie sie liest. Es interessierte sie auch, wie die Geschichte auf uns als Mütter von Kindern im pubertären Alter wirkt.

Doch nun war ihr die Geschichte oft zu sprunghaft (beim Hören merkt man das weniger). Der Autor hat im Kapitel zwischen Zeiten und Orten gewechselt und oft wusste sie kaum, wo sie nun steht. Die Rückblenden waren oftmals schöne Geschichten, speziell die Mutter-Kind-Situationen haben ihr gefallen. Wahrscheinlich war diese Beziehung zur Mutter nur möglich, weil Glass mit 17 eine sehr junge Mutter war. Es ging zwischen ihr und den Kindern relativ kollegial zu. (Parallelen zu Zwillingsbeziehung) Das ganze Buch war ehe wie ein Märchen. Wo spielte es, in welcher Zeit? Alles ist etwas in der Schwebe.

Die Geschichte um Dianne wirkte teilweise etwas gesucht, Phil war ihr etwas zu erwachsen. Er reflektierte zu stark über sein Leben und den Sinn darin. Sie meinte, das sei bei 17 jährigen nicht in dem Masse ausgeprägt. Doch die Rand und Nebenfiguren sind sehr liebevoll gezeichnet.
Der Schluss, besonders der Epilog war gut. Die Homosexualität ist insoweit ein Thema, weil Phil am Schluss geoutet wird. Somit kann er nicht mehr im Ort leben, zumal seine Liebe zu Nicholas nicht erwidert wird. Dazu kommt der Betrug von Kat und dieser schreckliche Unfall, bei dem Nicholas an Stelle von ihm verletzt wird. Einziger Ausweg scheint ihm die Flucht nach Amerika.

Ein rundum gelungenes Buch. Die Geschichte berührte in vielen Passagen. Es handelt sich nicht um Weltliteratur, aber es ist ein gutes, anspruchsvolles Jugendbuch. Aber sehr schräg, eine phantastische Geschichte.

Gräfin 6: Sie hatte zu Beginn Bedenken, pubertäres Zeug interessiert sie nicht wirklich. Aber es ist eine schöne Geschichte, die Sprunghaftigkeit, mit der Gräfin 1 teilweise zu kämpfen hatte, störte sie nicht. Sie fand sich gut in den Zeiten zurecht, die Sprache empfand sie als schön, die Redewendungen haben ihr gut gefallen. Das ganze hat sie auch gepackt, weil sie einen Buben in diesem alter hat. Ihr imponierte die Familie, weil sie trotz widriger Umstände zusammenhielt. Die Mutter ist crazy, Darling! Wenn auch nicht respektiert im Ort, so dennoch geduldet und ihr Rat wird oft gesucht.

Gräfin 3: Auch ihr hat das Buch gut gefallen, hat aber beim Lesen nie an ihre eigenen Kinder gedacht. Sie fühlte sich eher in der Rolle des Phil, nicht in der Mutterrolle. Sie lebte die Geschichte mit ihm mit. Er war ihr eher wie ein Kumpel, sie spürte diese Schicksalsgemeinschaft. Aber was die Tochter ihrer Mutter antat, ist schrecklich. (Visible = ausgestellt)

Die beiden haben sich eigentlich nicht gern, da steckt Hass in der Familie. Da die Mutter Kumpel sein wollte, war das keine richtige Familie, die Kinder sind hereingeschneit, als die Mutter (zu) jung war, sie hat sie wohl angenommen. Er mit Michael, einem Freund aus der Anwaltskanzlei kann sie sich öffnen und hingeben.

Die Sprache empfand sie als süffig, sie fand eine Menge Zitate. Einziges Handicap des Buches: Sie las vor etwa einem Jahr ein Buch mit ähnlicher Thematik (die Lewins), das (noch) besser und berauschender war. Deswegen verglich sie diese Geschichten ab und zu, und: sorry, dieses schnitt schlechter ab.

Der Schluss des Buches gefiel ihr im Gegensatz zu Gräfin 1 nicht. Man nimmt der Mutter das Geständnis nicht ab. Es war auch unerwartet und unnötig. Phil ist am Schluss auch einfach vor seinen Problemen davon gelaufen. Es gab keinen Ansatz für Lösungen, die glaubwürdig wären.
Das schlimmste für Glass; ein normales, intelligentes Kind, dass nicht auffällt. Deswegen hat Glass kein Problem mit der Homosexualität, sie findet das erfrischend.

Gräfin 2: Sie knüpft beim Schluss an. Denn hier schliesst sich der Kreis. Wie die Mutter übers Meer kam mit 17, so geht Phil übers Meer wieder weg.

Der Anfang des Buches war super, der Schluss auch, die Mitte war okay. Das Buch ist ein Knaller. Schwachstellen: Zwillingsschwester, das Geheimnis um sie war gar keines, was soll das? Sie hat sich zurückgezogen, vielleicht, um die eigenen Entscheidungen treffen zu können? Dafür wird bei der Mutter ein Geheimnis aufgelöst, auf das eigentlich niemand gewartet hat.
Sie mochte Glass nicht, die war ihr zu egoistisch. Sie konnte aber auch nicht mit Phil mitgehen. Das ganze war sehr exotisch. Die Figuren fand sie wunderbar gezeichnet, überhaupt nähme es sie wunder, wie es weitergeht. Wie leben sie weiter? Sie macht auch auf die schöne Sprache, den sicheren Stil des Autors aufmerksam.

Gräfin 5: Ihr fiel auf, dass die Namen oft sehr aussagekräftig waren. Visible = durchschaubar, Glass, die durchsichtige wohnt in einem Haus voller Fenster….

Phil ist der Freund, Dianne ist die Göttin der Jagd, die mit Pfeil um Bogen umzugehen weiss…
Glass gibt den Zwillingen teilweise ziemlich auf die Nerven, was aber ihrer Rolle entspricht. Jugendliche müssen sich aber ihren Müttern ärgern, das ist der Lauf der Zeit. Wir erleben Glass aus der sicht von Phil, der sich von ihr lösen muss. Deshalb wird sie wahrscheinlich auch etwas ambivalent geschildert. Nicht so fassbar.

Ihr stiess vor allem der Segeltörn mit Gabe auf. Das gefiel ihr nicht und empfand sie als unverantwortlich. Gabe besorgt Phil auf einer griechischen Insel einen Liebhaber, damit er die gleichgeschlechtliche Liebe ausleben und entdecken kann. Der Junge ist 14! Die macht Gabe in Absprache mit der Mutter. Was soll das!? Phil suchte auf dieser Schiffreise sicher mehr den Vaterersatz in Gabe als einen griechischen Strichjungen. Aber Gabe war, wie alle Männe in Phils Leben, nicht bereit für eine „Vater-Sohn“ Beziehung. Warum lehnt eigentlich Dianne Gabe ab? Das wird nie schlüssig erklärt. Dianne geht auf Distanz, obwohl sie die Person der Familie ist, die Konstanz und Verlässlichkeit sucht und letztendlich auch findet.

Personen:
Glass: Kommt mit 17 hochschwanger mit dem Schiff von Amerika nach Europa, bringt dort, draussen vor dem Haus „Visible“ die Zwillinge Dianne und Phil zur Welt. Sie ist unbeliebt im Ort, hat viele Liebhaber. Für die Kinder mehr Kumpelin als Mutter, aber gibt alles für die Kinder, liebt sie bedingungslos. Dennoch wirkt sie cool, sie ist keine Rabenmutter, wie man meinen könnte.
Gibt vielen Frauen im Ort Ratschläge, wie sie mit ihren Männern umgehen sollen (oder sie verlassen sollen) Die Frauen bringen oft Geschenke mit.
Arbeitet als Bürohilfe in einer Anwaltspraxis (woher hat sie die Sprache dazu als Amerikanerin in Deutschland?) Man weiss nicht, ob sie eine Ausbildung genossen hat. Die Figur ist entgegen ihrem Namen nicht durchsichtig; man blickt nicht durch und sie ist nicht wirklich stimmig.
Tereza: Freundin der Familie, kommt aus dem Ort. Ihr Vater ist ein angesehener Akademiker, zu dem sie aber den Kontakt abgebrochen hat. Sie ist lesbisch, lange in Glass verliebt, die Liebe bleibt aber unerwidert. Ist mit Pascal aus Holland liiert, die eifersüchtig ist auf Glass und folglich mit der Familie nicht so gut zu Recht kommt.
Dianne: Blass, nicht lebhaft, verschwiegen, suchte jemand stabiler in ihrem Leben. Einen Vaterersatz, sie war eifersüchtig auf die erneute Schwangerschaft von Glass und führte mit Kräutern Abbruch herbei. Grosser Streit mit Glass, gingen sie sich aus dem Weg. Beste Freundin, ihr Freund liegt seit drei Jahren im Komma, niemand der Familie wusste davon. Sie ist undurchschaubar, obwohl sie in Visible wohnt.
Phil: Ich-Erzähler. Die Geschichte handelt von seiner Kindheit, von seinem erwachsen werden. Er reflektiert die Geschehnisse, oftmals sehr erwachsen, manchmal auch mit dem blick des Kindes mit viel Unverständnis. Wird von Glass und Tereza schon bald in die Homosexualität gedrängt, oder abgestempelt. Er muss sich am Schluss der Geschichte von allem befreien und geht weg, um sich (oder seinen Vater?) zu finden. Autobiographische Figur im Roman. Der Autor hat eigene Erfahrungen eingeflochten.
Kat: Sie ist geradlinig, der Spagat zwischen den kleinen Leuten jenseits des Flusses und der Familie um Glass gelingt ihr spielend. Sie zieht ihr Ding durch. Es schein uns, sie ist sehr authentisch gezeichnet. Phil lernt sie mit 6 Jahren bei der Ohrenoperation kennen und freundet sich mit ihr an. Sie ist die starke Komponente in seinem Leben. Beim Betrug ging es ihr nicht in erster Linie um Nicholas, sondern darum, die Beziehung zwischen Phil und Nicholas zu zerstören, damit Phil weiterhin ihr gehört. Oder anders: sie will Nick Phil wegnehmen. Sie hat also die Beziehung aus Berechnung kaputt gemacht, ohne über die Folgen nachzudenken.
Nicholas: Er wird „der Läufer“ genannt. Er ist ein Alpha-Tier, neu an der Schule (warum ist er aus der alten Schule geflogen?) ein guter Sportler. Er sammelt Gegenstände und schreibt Geschichten dazu. Die sind etwas verworren, haben aber spannende, skurrile Ansätze. Aber eigentlich ist er eine tragische Figur. Er ist sehr einsam, die Eltern kümmern sich zu wenig um ihn. Er wird von Kat missbraucht, denn um Phil für sich zu behalten, bändelt sie mit ihm an, verführt ihn. (und er lässt sich gerne verführen, weil er Anerkennung und Bewunderung will)
Nick ist sehr fasziniert von Visible und im Besondern auch von Glass. Der Anschlag auf Phils Leben trifft ihn und verletzt ihn schwer. Er wird fürs Leben gezeichnet sein, und wird auf Grund des Betruges mit Kat von Phil verlassen.

Zitate

Gräfin 1: S. 386 „Man glaubt, das Leben folge einem bestimmten Plan, einem irgendwie gearteten Muster, einem offenen oder geheimen Sinn. Warum?“

Gräfin 3: S. 388 „Wer in seinem Leben keinen Sinn entdeckt, kann immer noch versuchen, ihm wenigstens ein Ziel zu geben. Wenn er glück hat, läuft beides irgendwann aufs Gleiche hinaus.“

Gräfin 5: S. 127 „Aus Angst vor einer Abfuhr trete ich mit meiner Sehnsucht auf der Stelle.“

Gräfin 6: S. 49 „…doch seit einigen Jahren gleicht ihre Existenz der eines in Bernstein gegossenen Insekts.“

Zum Weiterlesen

„Defender“ Geschichten aus der Mitte der Welt