Bewertung: 4

Herta Müller – Herztier

Bewertung: 4 Kronen

 

Das Buch ist in der ICH-Form geschrieben. Die Geschichte spielt sich in den 70er Jahren in Rumänien ab, während der Diktatur von Nicolae Ceausescu.

Die Erzählerin stammt vom Land und studiert später in der Stadt Sprachen. Sie lebt mit 4 Studentinnen in einem Zimmer. Eine prostituiert sich, bandelt mit einem Professor der Schule an, dieser ist eng mit der Partei verbunden. Deswegen tritt auch die Kollegin der Partei bei. Später erhängt sie sich, weil sie vom Turnlehrer vergewaltigt worden ist. Sie wird an ihrer Gedenkzeremonie von der Partei verstossen.

Die ICH-Erzählerin, die immer namenlos bleibt,  wird von drei Mitstudenten angesprochen: Edgar stammt wie sie aus einem Dorf, Kurt und Georg wuchsen in rumänischen Kleinstädten auf. Ihre Väter waren wie ihr eigener Vater bei der SS gewesen; ihre Mütter verdienen den Lebensunterhalt als Schneiderinnen.

Edgar, Kurt und Georg wohnen ebenfalls in einem Studentenwohnheim. Sie treffen sie sich jeden Tag, besprechen die politischen Zustände in ihrer Heimat, über ihre Gedichte und erzählen der Ich-Erzählerin von ihrem Geheimnis: In einem Leinensack, der unter dem Brunnendeckel bei einem unbewohnten Sommerhaus befestigt ist, haben sie Bücher versteckt, die aus Ländern stammen, in denen es Jeans und Orangen, weiches Kinderspielzeug und tragbare Fernsehgeräte, Wimperntusche und hauchdünne Strumpfhosen gibt.

Durch diese kritische Gesinnung gegenüber der Regierung wird die Geheimpolizei auf sie aufmerksam. Ihre Unterkünfte werden untersucht, das ist für die Verwandten daheim ein Schock. Eine treibende Kraft dieser Hetzjagd ist vor allem Polizeihauptmann Pjele. Er  verhört die vier aufmüpfigen Studenten einzeln wegen eines Gedichts, das bei ihnen gefunden wurde. Er zwingt die Erzählerin, es laut vorzulesen. Immer wieder erinnert sich die Erzählerin an ihre Kindheit und Jugend.

Das Kind hat zwei Grossmütter. Die eine Grossmutter betet, aber nicht bis zu Ende. Sie steht mitten im Gebet auf und geht. Die andere Grossmutter singt das Lied zu Ende, ihr Gesicht ist schief, weil sie so gerne singt. Wenn das Lied zu Ende ist, glaubt sie, das Kind liegt tief im Schlaf. Sie sagt: Ruh dein Herztier aus, du hast heute so viel gespielt.

Die singende Grossmutter lebt neun Jahre länger als die betende Grossmutter. Und sechs Jahre lebt die singende Grossmutter länger als ihr Verstand. Sie erkennt keinen mehr im Haus. Sie kennt nur noch ihre Lieder.

Die Ich-Erzählerin wird oft von Selbstmordgedanken geplagt. Sie stellt sich vor, wie es wäre, wenn sie sich aus einem Hochhaus hinausstürzen würde. Dann wieder zieht sie mit zwei grossen Steinen in den Manteltaschen zum Flussufer, aber sie schreckt vor den Fluten zurück. Nicht einmal ihren drei Freunden erzählt sie von ihren Selbstmordgedanken.

Nach dem Studium wird sie Übersetzerin sie in einer Fabrik. Edgar und Georg werden vom Staat für drei Jahre als Lehrer in zwei verschiedene Industriestädte geschickt. Kurt kommt als Ingenieur in einem Schlachthaus unter.

In der Fabrik lernt sie Tereza kennen und freundet sich mit ihr an. Diese hat jeden Tag ein anderes Kleid an. Sie scheint eine grosse, internationale Garderobe zu haben. Aus diesem Grund wird sie von den Mitarbeiterinnen geschnitten. Terezas Vater ist gegen diese Freundschaft, weil die Ich-Erzählerin politisch verfolgt wird. In der Achselhöhle Terezas entdeckt die Erzählerin eines Tages eine Geschwulst, aber die junge Frau weigert sich, zum Arzt zu gehen. Sie ist sogar mit einem Arzt befreundet, aber der will sie nicht untersuchen, und wenn er mit ihr zusammen ist, lässt sie stets eine Bluse an, damit er ihre Achselhöhlen nicht sieht.

Wegen ihrer politischen Überzeugungen werden Edgar, Georg und die Erzählerin entlassen. Nur Kurt behält einen Job im Schlachthaus. Nun wird die Ich-Erzählerin von ihrer Mutter finanziell unterstützt.

Georg wird brutal zusammengeschlagen und kommt erst wieder im Krankenhaus zu sich . Als er Anzeige erstatten will, lacht die Polizei ihn aus: Offiziell war er wegen Behandlung einer Sommergrippe hospitalisiert worden. er stellt nun einen Ausreiseantrag und reist in die BRD. Dort nimmt er sich nach sechs Wochen das Leben.

Auch Edgar stellt einen Ausreiseantrag, ebenfalls die Mutter der Erzählerin für sich, ihre Tochter und die Grossmutter. diese erlebt aber den Tag der Ausreise nicht mehr.  Die Erzählerin geht nach Berlin, ihre Mutter nach Augsburg, und Edgar zieht nach Köln. Sie können nicht beweisen, dass sie aus politischen Gründen gekommen sind und erhalten deshalb kein Arbeitslosengeld.

Bei einem Besuch von Tereza in Berlin findet die Erzählerin bei deren Sachen eine Kopie ihres eigenen Wohnungsschlüssels. Als sie eine Telefonnummer anruft, die sie im Koffer ihrer Besucherin entdeckt, meldet sich die rumänische Botschaft. Da fordert sie Tereza vorzeitig zur Abreise auf. Tereza war der Partei beigetreten und im Auftrag von Hauptmann Pjiele aufgefordert worden, die Ich-Erzählerin zu bespitzeln.

Tereza stirbt ein halbes Jahr später an Krebs. Kurt erhängt sich in seiner Wohnung.

Über die Autorin

1953

Herta Müller wurde am 17. August 1953 in Nitzkydorf im Banat (Rumänien) geboren. Sie wuchs in einer deutschspracheigen Familie auf .Ihr Vater war im 2. Weltkrieg in der SS. Ihre Mutter musste von 1945 – 1950 Zwangsarbeit in der UdSSR leisten.

1972 – 1976

Studium an der Universität Temeschvar; Germanistik und Romanistik

Ab 1976

Deutschlehrerin und Übersetzerin für technische Beschreibungen

1979

Entlassung, weil sie nicht andere für Securitate bespitzeln wollte

1982

Debütroman „Niederungen“, wurde in zensierter Verfassung in Rumänien und später in Originalfassung in der BRD veröffentlicht

1987

Ausreise mit Ehemann Richard Wagner nach Westberlin

1989

Ricarda-Huch-Preis und Marieluise-Fleißer-Preis

1991

Kranichsteiner Literaturpreis

1994

Kleist-Literaturpreis

2009

Literaturnobelpreis

Diskussion zum Thema

Gräfin 1:

Warum dieses Buch? Sie ging in den Stocker und hatte 2 Kriterien für die Auswahl: Es muss 6 Stück haben und es muss dünn sein. Es war für sie das einzige Buch, das sie nebst Fachliteratur las! Es ist zwar spannend, aber vor allem gewann Herta Müller den Nobelpreis 2009. Die Gründe dafür sind ihr schleierhaft. Das Buch ist nicht neu, es kam bereits 1994 heraus. Es beschreibt eindrücklich das Zeitgeschehen und wurde von einer Fachjury bewertet. Sie hat sich mit lesen schwer getan, sie liest nicht gerne politische Themen, ausserdem ist der europäische Osten und dieser Zeitraum für sie nicht sonderlich von Interesse.

Trotz innerem Widerstand ging ihr die Lektüre dann relativ glatt. Eigentlich war’s ja noch spannend, sich auf ihren Schreibstil und ihren Takt einzulassen. Irgendwann ist man in der Geschichte drin. Sehr viel ist autobiographisch. Herta Müller erzählt fast ihre eigene Geschichte. Sie musste also diesen Stil wählen. Es muss schon hart sein, auf so ein Leben zurückzublicken, deshalb wählte sie wohl diesen abstrakten, distanzierten Schreibstil. Inhaltlich ging’s um Horror, Terror, eine triste deprimierende Geschichte von Anfang bis zum Schluss. Es war bedrückend zu lesen, aber dennoch immer wieder faszinierend.

Die Psychologie: Herta Müller war von der Polizei verfolgt worden, weil sie nicht spitzeln wollte. Das löste auch in Gräfin 1 Gedanken aus: Hätte sie sich anders verhalten und für die Polizei geschnüffelt um dafür Ruhe zu haben? Hätte sie nein sagen können? Die schwierige politische Situation in den 70er und 80er Jahren damals in Osteuropa. Dennoch: Warum dieser Literaturpreis?

Gräfin 3: Sie hatte Mühe, hineinzukommen. Da erfand sie für sich eine Strategie: sie zeichnete alle Zitate an, die guten, die schlechten und die schrägen an. Sie jagte also Aussagen um im Buch vorwärts zu kommen. So kam sie auf viele Sachen und nahm den Rhythmus an. Sie hat mit dem Buch gearbeitet. Sie bemerkte die Metaphern: „schlechtes Gewissen“ = Pflanzen / „Sack“ = Tod

Durch die repetitiven Motive auch in der Sprache wird gezeigt, dass es nur ein begrenztes angebot gab. So kam die Hoffnungslosigkeit zum Ausdruck.

Das Buch gefiel ihr zunehmend besser, sie sah am Schluss nochmals die Zitate durch und bemerkte den Charme, die Eigenständigkeit, das war die Welt, in der Herta Müller aufgewachsen war. So wie H. M. war damals das ganze Land geschüttelt worden. Wer nicht tat wie er sollte, war suspekt.

Als ICH-Erzählerin bleibt sie dennoch unpersönlich, ja sogar unbeteiligt. H. M. wächst einem nicht ans Herz. Sie gefiel und stiess gleichzeitig ab. Gräfin 3 ist froh, dass sie das Buch gelesen hat. Am Schluss war das Ganze ein AHA-Erlebnis!

Gräfin 2: Auch sie hatte am Anfang Mühe und fand es extrem schräg. Alle Sätze wirkten konstruiert. Mit der Zeit fand sie aber in den Sprachstil herein und passte sich dem Rhythmus an. Es sind nicht komplizierte Sätze, aber vielleicht war grad die Einfachheit, die es einem so schwierig machte? Sie packte viel in die Aussagen hinein. Die Geschichte war düster, schwer, aber trotzdem ein farbiges Buch. Herta Müller schaffte es, die Plätze eindringlich zu beschreiben. Alle Personen sah man vor sich, ausser die ICH-Erzählerin! Sie kam fast nicht vor. Die Bilder zum Buch werden wohl noch lange bleiben, sie waren sehr eindringlich. Sie dachte daran, das gibt ein super Buch… aber der Schluss war dann eine Effekthascherei mit der Endlosschlaufe. Gräfin 2 war erstaunt, weil die Nachhaltigkeit so gering war. Sie las das Buch einige Zeit vor der Sitzung und es blieb so wenig übrig nach diesen paar Wochen. Das gibt Abzug in der Bewertung.

Gräfin 4: von Anfang bis Schluss hat sie den Faden nicht gefunden. Sie hatte nie Zugang zum Buch. Zwar waren es einfache Sätze, aber sie sagten ihr nichts. Warum bloss erhielt sie den Nobelpreis? Das ist ihr ein Rätsel. Im Nachhinein fragt sich Gräfin 4, ob sie das Buch nochmals von vorne hätte lesen sollen, das Ganze ein zweites Mal beginnen. Die Szene mit dem Blut trinken fand sie nicht grausig, weil die Schwinger das manchmal auch machen um zusätzlich zu Kräften zu kommen. Die Geschichte des Buches könnte sie weder zusammenfassen noch würde sie die Lektüre weiterempfehlen. Aber es hat ihr doch viel gegeben, dass wir darüber gesprochen haben. Sie hat nun einen anderen Zugang gefunden.

Gräfin 6: Sie hatte extrem Mühe mit dem unrhythmischen Stil. Sie schüttelte den Kopf beim Lesen. Die Sätze waren kurz und prägnant. Oft hat sie zurückgeblättert und gedachte, vielleicht sei sie zu blöd für das Buch? Mit der Zeit wurde es besser, auch sie gewähnte sich an den Schreibstil von Herta Müller. So tastete sie sich langsam an die Geschichte heran. Nun konnte sie fliessend lesen. Dennoch – sie würde das Buch nicht weitergeben oder empfehlen. Es hat sie zu wenig überzeugt. Jeder zweite Satz enthält eine Metapher. Die Sätze waren zu extrem, sie konnte den Text nie geniessen. Ein Horror. Die Sprache war gewaltig und gewalttätig. Sie konnte mit den Sätzen viel auf den Punkt bringen. Vielleicht entwickelt diese Lebensform diesen Sprachstil? Seltsam unberührt von der ICH-Erzählerin.

Gräfin 5: Sie hatte extrem Mühe, liest sonst jeden Stil. Sie machte sich einen Spass daraus, Zitate anzustreichen. Es hätte beim Lesen geholfen, die Biographie von Herta Müller im Voraus zu kennen. Die Schriftstellerin hat einen Knall in ihren Augen, Verfolgungswahn!

Die Metaphern kamen ihr zu oft, es war alles in allem zu repetitiv. So fühlte sie sich als Leserin nicht ganz ernst genommen. Sie mag das nicht, wenn dauernd alles wiederholt wird. So wird sie ungeduldig beim lesen. Jeder 4. Satz ist sinnlos. Sie vergleicht das Buch mit moderner Kunst, die sie eben auch nicht versteht.

Das Buch hat sie nicht interessiert. Obwohl sie den Sturz des Ceauşescu-Regimeeng mit verfolgt hat, und sich als politischen Menschen empfindet, konnte sie das Buch und die Geschichte darin in keiner Weise fesseln. Für sie war die Lektüre nicht nachhaltig. Das Positive war, dass sie sich an den zum Teil abstrusen Sätzen und Aussagen amüsieren konnte. Aber ob das im Sinn der Schriftstellerin ist? Das Buch machte sie fast verrückt.

Zitate

Gräfin 3: (S. 44) „Er wartet noch auf die Wahrheit, er spürt, dass ich im Reden schweige.“

Gräfin 1: (S 71) „Wie müsste man leben, dachte ich mir, um zu dem, was man gerade denkt, zu passen.“

Gräfin 5: (S. 157) „Er liess Tereza im Stich, damit sie nicht aus seinem Leben wegstirbt.“

Gräfin 2: (S. 171) „Mist ist ein Halt, wenn Verlorenheit schon Gewohnheit ist“

Gräfin 4: (S. 187) „Wenn ich eine Uhr an mir habe, weiss ich besse, wo ich dran bin, sagte sie, auch wenn sie nicht geht.“

Zum Weiterlesen

Atemschaukel“