Bewertung: 5

Ian McEwan – Abbitte

Bewertung: 5 Kronen

 

Im Landhaus Tilney wohnt die Familie Tallis: Die 13-jährige jüngere Tochter, Briony, wächst wie ein Einzelkind auf und widmet sich seit zwei Jahren der Schriftstellerei.

Am Tag der Heimkehr Leons treffen Brionys Cousine Lola und deren Brüder Jackson und Pierrot in Tilney ein. Weil sich ihre Eltern getrennt haben, sollen sie den Sommer hier verbringen. Briony probt mit ihnen ihr Theaterstück, schlussendlich scheitert das Vorhaben aber.

Briony beobachtet Cecilia und Robbie am Brunnen, wie sie sich um eine Vase raufen und Cecilia schliesslich ihre Kleider abstreift und in den Brunnen steigt. Am Abend übereicht Robbie Briony einen Brief für Cecilia, den diese liest. Später ertappt sie Robbie und Cecilia in der Bibliothek in einer verfänglichen Situation.

Mit Lola stimmt auch etwas nicht. Sie beklagt sich, dass ihre Brüder ihre Arme zerkratzt hätten. Das Abendessen verläuft in angespannter Atmosphäre. Lolas Brüder verlassen den Tisch und hinterlassen eine Nachricht, dass sie wieder nach Hause gehen würden. Eilig schicken sich die Anwesenden an, die zwei Jungen zu suchen. Briony sucht auf eigene Faust.

Im nächtlichen Park sieht sie zwei Personen, die sich sehr nahe sind. Ein Mann rennt davon, zurück bleibt die verstörte Lola. Die Missdeutung von Brionys Beobachtungen des Tages führt sie zur verhängnisvollen Behauptung, Robbie Turner habe sich an Lola vergriffen.

Als Robbie Turner gegen Morgen mit den Jungen in Tilney auftaucht, erwartet ihn dort bereits die Polizei. (Die Geschehnisse eines einzigen heissen Sommertages erstrecken sich im ersten Teil des Buches über 250 Seiten)

Dreieinhalb Jahre verbringt Paul Turner im Gefängnis. Cecilia darf ihn nicht besuchen, sie schreiben sich. Nach Verbüssen der Strafe wird Robbie gleich zum Militär eingezogen. Cecilia arbeitet als Krankenschwester in London. Sie hat sich von der Familie distanziert. Robbie erlebt den Krieg in Nordfrankreich beim Rückzug nach Dünkirchen mit all seinen Grausamkeiten.
Die inzwischen 18-jährige Briony lässt sich in London zur Krankenpflegerin ausbilden. Mit Hingabe pflegt sie die Verwundeten.

An der Hochzeit Lolas mit Paul Marshall entdeckt Briony, dass dieser der Vergewaltiger war.
Nachdem Briony die Adresse ihrer Schwester herausgefunden hat, sucht sie sie auf, um sich mit ihr auszusprechen. Cecilia bleibt unversöhnlich. (Der zweite Teil des Buches handelt ausschliesslich vom Krieg)

Im dritten Teil des Buches, fast sechzig Jahre später im Jahre 1999, findet zu Brionys 77. Geburtstag eine Feier statt. Sie ist eine gefeierte Schriftstellerin geworden. In Tilney, inzwischen zu einem Hotel umgebaut, richten die Nachkommen der Cousins ihr Fest aus. Das seinerzeit für Leon geschriebene Theaterstück wird aufgeführt. Nach diesem anstrengenden Tag hängt Briony in ihrem Zimmer nun ihren Gedanken nach…

Über den Autor

Ian McEwan, *21.06.48, als Sohn eines Berufssoldaten in Aldershot in England geboren, verbrachte seine Kindheit in England, Singapur und Libyen. Spezielles Verhältnis zum Vater prägte sein Leben: Vater ist eine „ferne, von einer Besprechung zur nächsten schreitende Gestalt mit Dienstrevolver um die Hüfte“, auch die Mutter wirkt speziell auf ihn: „eine zarte, an Schlaflosigkeit leidende Schönheit, die sich still um jeden sorgte, ausser um sich selbst“.

1960 ging er auf ein Internat in Suffolk, das ihm zunächst nicht gefiel. Sein Vater wurde nach Deutschland versetzt, dort verbrachte er einen wichtigen Teil seiner Pubertät.
Mit 14 sah er die Berliner Mauer, dieser Eindruck liess ihn nie mehr los. Er sagte später: „ich war fassungslos, wie grausam diese mauer die Stadt zerschnitt.“ Die inspirierte ihn später zu einem Roman “Unschuldige“.

Er studierte Literatur an der University of Sussex und gewann bereits mit seinem ersten Erzählband einen bedeutenden Preis, den Somerset-Maugham-Preis.

1. Ehe mit Penny Allen, 2 Kinder; lebt nun in 2. ehe verheirat in London.

Er arbeitet er als Schriftsteller. Sein jüngster Roman »Saturday« nahm die Terroranschläge in London im Juli 2005 vorweg. Er träumt von einer Welt ohne Religion. (Die Zeit)

Diskussion zum Thema

Gräfin 4: Sie hat das Buch gerne gelesen. Es war süffig, aber erst von da an, als Robbie Briony den Brief übergibt. Die Wortwahl begeisterte sie. Sie konnte sich aber den Titel und den Schriftsteller nie merken. Warum erklärte Briony eigentlich niemand, was Sache ist beim Sex? Sie empfand Briony im 2. Teil des Buches als sehr aufopfernd.

Gräfin 6: Ihre Eindrücke sind zwiespältig, es war ein seltsames buch, sehr schnell ist sie rein gekommen, aber sie hatte keinerlei Interesse für dieses Mädchen Briony und das „Theater“ entwickeln können. Briony will im Mittelpunkt stehen, aber Lola macht ihr diesen Platz streitig. Den Zugang zur Geschichte hat sie erst im zweiten Teil des Buches gefunden, sogar erst im hinteren Teil des 2. Teils! Die Sprache war wunderbar, sie fühlte sich zeitweise mitten in der Schlacht, mitten in der Gefahr. Das hat sie sehr genossen. Der Titel sagt ihr nichts, für sie ist Abbitte die falsche Wahl. Abbitte bedeutet für sie, eine Schuld abzuarbeiten, was Briony nicht getan hat. So ist also der Titel nichts sagend.

(Duden: Ạb|bit|te, die; -, -n ‹Pl. selten›: (förmliche) Bitte um Verzeihung: jmdm. A. leisten, schulden; öffentlich A. tun.)

Briony versuchte also Abbitte zu erlangen, indem sie einen Roman mit der Wahrheit schrieb. In ihren Augen misslingt das aber.

Gräfin 6 hat eventuell zuviel erwartet, war dieser Briony sehr negativ eingestellt. Sie erschien ihr kalt und mechanisch. Spezielles Buch; der Schluss ist für sie logisch, hat Zusammenhang mit der Begegnung, als sie die Schwester um Verzeihung bat.

Im 3. Teil wurde das Lesen immer einfacher, der Stil immer zügiger. Es war anspruchsvoll, aber nicht süffig. Thematik ist sehr hart. Er im Alter konnte man sich mit Briony versöhnen. Aber als altersmild halt sie sie nie empfunden.

Gräfin 3: 1. Teil: Hier gefiel ihr der Stil, aber Briony erinnerte sie an die Figur von flick aus „Daphne Herbst“, also wieder so ein pubertäres Töchterchen. Der Text packte sie, sie hat geschwitzt, die aufgeladene Spannung genossen, sie spürte förmlich, was vor sich ging. Der Stimmungsaufbau war gewaltig, aber die dauernden Ankündigungen nerven sie extrem.

2. Teil im Krieg kam ihr am nächsten, Robbie: seinen Gedanken konnte sie am besten folgen, er kann Briony nicht verzeihen, was sie verstehen kann. (Daher stirbt er für Gräfin 3). Zu Briony; sie nimmt ihr die Abbitte nicht ab, sie zieht es nicht ernsthaft durch.

3. Teil: Das Alter; sie vergisst nun langsam alles, hat das Leben aber gelebt, keiner hat was mitgekommen von dem, was sie angestellt hat. Gräfin 3 nimmt ihr die Sühne nicht ab. Andere sehen ihre Schuld nicht, sie haben ja den Sündenbock (Robbie)

Gräfin 2: Briony hatte Ordnungsfimmel! Sie war wie ein Einzelkind aufgewachsen, Mutter hatte oft Migräne, Vater war abwesend, Geschwister am Collage. Briony will aber alles richtig machen, Lob einheimsen, weil sie sonst kaum zur Kenntnis genommen wird. Es ist nachvollziehbar, dass sie alles im Kopf an die richtige Stelle rücken will. Durch die Anklage von Robbie steht sie wieder im Mittelpunkt des Geschehens.

Gräfin 3: Ja, weil Robbie kommt und ihr die Schwester wegnehmen will, ist er sowieso der „Buhmann“. Das Kind spürt, dass etwas vor sich geht beim Brunnen, es will siede Intimität nicht. Das passt ihr nicht! Im Theater kann sie die Arabella herum schieben wie sie will. Aber auf Cee und Robbie hat sie keinen Einfluss, sie will aber nicht dass sie sich näher kommen.

Gräfin 5: Der 1. Teil war für sie quälend, langsam geschrieben. War das ganze real oder eine Fata Morgana der Vergangenheit? Briony ist die Schriftstellerin des Buches, alles ist sehr vage geschrieben. Der 2. Teil hat ihr sehr gut gefallen und Robbie war für sie der Sympathieträger. Die ganze englische Erziehung, die Standesdünkel weichten auf. Dennoch hätte eine Liebesbeziehung zwischen Cee und Robbie nicht sein dürfen, er gehörte nicht ihrem Stand an. Auch wenn dieses tragische Ende des Sommertages 1935 nicht gewesen wäre, hätten die beiden kaum zusammen bleiben können. Unüberwindbar wären die Widerstände gewesen.

Warum so ein Theater daraus gemacht wird, dass Robbie im Krieg ist, ist ihr ein Rätsel. Auch wenn er nicht im Gefängnis gewesen wäre, hätte er einrücken müssen. Er war nicht von Adel oder sonst irgendwie besser, er wäre nicht um einen Diensteinsatz herum gekommen. Dünkirchen wäre ihm so oder so nicht erspart geblieben. Vielleicht wäre sein Überlebenswille kleiner gewesen, ohne Frau, die auf ihn wartet? Lazarett-Teil: Gräfin 5 hat erwartet, dass Robbie dort zur Pflege auftaucht bei Briony. Aber das wurde sie enttäuscht. Dafür schrieb Briony in der Freizeit, und ein Verleger gab ihr eine ausführliche Antwort, ablehnend zwar, aber mit Tipps. Und das war eine Schlüsselstelle. Ab da war klar, dass Briony den Tag 1935 nach belieben gestaltet haben konnte. Was hatte sie gesehen? Was geschah wirklich? Ist etwas geschehen? Kam Robbie ins Gefängnis oder ging er weg und nachher in den Krieg? Briony führte uns das ganze Buch durch an der Nase herum, sie sagte am Schluss, dass Schriftsteller und Gott sich ähnlich sind „mit uneingeschränkter Macht über das Ende entscheiden“.

Im 3. Teil steht das, und deshalb glaubt Gräfin 5 auch, dass Briony dem Liebespaar einen guten Schluss gönnte. Vielleicht haben sie ja wirklich gelebt aber keinen Kontakt gepflegt?

Gräfin 1: Das Buch hat sie sehr verwirrt, hat sie zum Nachdenken gebracht. Der Beginn der Geschichte machte sie hässig. Sie empfand Briony unreif und heuchlerisch. Falls die Geschichte 1935 so stattgefunden hat, versuchte sie im Krieg als Nurse etwas gut zu machen. Dabei hat sie sich aber wieder zelebriert.
Lola und Paul wurden überrascht, schon da von Briony falsch interpretiert. Sie weist Schuld zu und mischt sich ein. Der Schriftsteller hat Macht über das Geschehen und macht alles so, wie er will. Der Schluss des Buches gefiel ihr sehr gut, weil er das Buch wieder aufmacht und Interpretationen zulässt. Spannend ist auch die form des Buches; es ist keine Rahmenhandlung! Aber hier wird man reingerissen und am Schluss ist man sehr verblüfft in der Gegenwart und bringt erst die ganze Geschichte zusammen. Es scheint nicht echt, was sie tut. Sie wurde mit dieser Frau, der alten erst am Schluss warm.
Das Buch ist die Abbitte, sie macht das Versprechen wahr, dass sie seinerzeit Robbie gegeben hat, dass sie alles exakt und wahrheitsgetreu aufschreibt, wie sich alles zugetragen hat.

Gräfin 5: Aber: hat sie das Versprechen überhaupt gegeben? Wenn Robbie in Frankreich gestorben ist, wohl kaum!

Gräfin 1: Geht sie zur Schwester? Oder war sie auch gar nie an der Hochzeit von Lola und Paul?

Gräfin 5: Warum war sie nicht zum Hochzeit eingeladen, aber ihre Eltern schon?

Gräfin 2: Hochzeit: dort begriff Briony, wie die Vergewaltigung ablief. War sie ein Risikofaktor? Das Buch hat ihr sehr gut gefallen. Beim Brief im ersten Teil fing’s sie’s an zu packen. Die verschiedenen Perspektiven waren toll, die Personenbeschreibungen super. Aber sie konnte sich mit niemand recht anfreunden.

Der letzte Teil hat sie erst befremdet, dann aber merkte sie, dass erst der Schluss allem einen Sinn bringt. Krass war, wie er Leute aus einem Erzählfluss heraus Hacken schlagen liess. In einem Nebensatz lässt der Schriftsteller ein paar Worte fallen, die alles in ein anderes Licht rücken, was vorher seitenweise erläutert wurde. Auf einigen kleinen Begebenheiten ist er total herumgeritten, andere hat er gänzlich weggelassen. Mutterfigur. Da wäre mehr drin gewesen, sie wäre mehr wert gewesen, doch sie liess es nicht heraus. Der Schluss war deprimierend und machte sie sehr nachdenklich. Für sie war dieses Buch die Abbitte.

Gräfin 5: Abbitte ist, dass Briony Cee und Robbie ein Leben gibt, dass sie durch ihre Schuld verloren haben.

Gräfin 3. Lazarett nimmt sie ihr aber, aber alles Weitere ist nur ein Roman! Von ihr erfunden.

Gräfin 6: Briony versuchte eine Abbitte, indem sie den Roman der Wahrheit schrieb, aber in ihren Augen ist das misslungen.

Gräfin 3: sie macht keine Abbitte, weil sie es nur schriftlich macht, nach ihrem Tode erledigt (erledigen lässt) Die Wirkung ist egal, wichtig ist, dass sie es macht.

Gräfin 5: Vielleicht gibt es dieses Buch gar nicht?

Gräfin 4: Es ist ja eh nicht von Briony, sondern von Ian McEwan geschrieben worden! Briony ist Kunstfigur! 😉

Lieblingszitate

Gräfin 6 S. 53: „Wann wusste der Finger, dass er sich bewegen sollte, wann wusste sie, das sie ihn bewegen wollte? Sich selbst zu überlisten war unmöglich.“

Gräfin 4 S. 169 „…schlug den Gästen schon beim Eintritt ein warmes Staubaroma aus den Perserteppichen entgegen. Zum glück hatte wenigstens der Fischhändler, der die Vorspeise, einen Krabbensalat, bringen sollte mit seinem Wagen eine Panne gehabt.“

Gräfin 3. S. 232 „Wie Schuldgefühle doch die Selbstfolter verschärften, wie sie die Einzelheiten gleich Perlen auf eine Endlosschleife zogen, die man sein Leben lang wie einen Rosenkranz befingerte.“

Gräfin 5 S. 271 „Noch während sich die Kluft zwischen ihnen weitete, begriffen sie, wie sehr sie in ihren Briefen sich selbst überholt hatten.“

Gräfin 2 S. 311 „Gewiss, sie war damals ein Kind gewesen, aber e konnte ihr nicht verzeihen. Er würde ihr niemals verzeihen.“

Gräfin 1 S. 495 Oder sagen wir, ich habe einen riesigen Umweg gemacht, um wieder an die Stelle zu kommen, von der aus ich losgezogen bin.“

Zum Weiterlesen

  • Liebeswahn, 1998 Roman. Diogenes TB, ISBN: 3257231628
  • Der Zementgarten, 1978 Roman. Diogenes TB, ISBN: 3-257-20648-8