Inge Lohmark hat keinen leichten Beruf. Als Biologielehrerin am Charles-Darwin-Gymnasium in einer Kleinstadt im hinteren Vorpommern unterweist sie die Letzten ihrer Art; gerade zwölf Schüler hat die neunte Klasse. Wenn dieser schlappe Haufen in vier Jahren fertig ist, wird die Schule dichtgemacht. Bis dahin wird Inge Lohmark diesem armseligen „Nachschub fürs Rentensystem“ aber schon noch beibringen, dass im Überlebenskampf nur eine Chance hat, wer sich an die Verhältnisse anpasst. So, wie sie selbst es stets getan hat, ob nach der Wende oder noch zu DDR-Zeiten. Ihr Mann Wolfgang, der früher als Veterinärtechniker Kühe mit Gefriersperma besamt hat, züchtet jetzt eben Strausse.
Sprachliche Unscheinbarkeit und Nüchternheit
Diese Geschichte über die geistige wie sexuelle Verirrung einer alternden Biologielehrerin hätte leicht so spröde geraten können wie die Protagonistin selbst. Doch der defensive, fast autistische Blick von Inge Lohmarks Blick auf ihren Kosmos und deren wachsende Angst und Verunsicherung ist sprachlich wunderbar plastisch. So dass der Leser, in Vorahnung eines unerhörten Ereignisses, den Roman nicht aus der Hand legen mag.
In jedem Augenblick ist hier eine höchst disziplinierte, sich selbst zurücknehmende Autorin und Künstlerin am Werk, die ihre Arbeit einzuordnen weiss in grössere Zusammenhänge.
Ein antidarwinistisches Manifest
Während Inge Lohmark sich immer stärker bedrängt sieht von ihren eigenen widersprüchlichen Instinkten und Trieben, erobert sich draussen die Vegetation die Strassen und Gehwege der Stadt zurück, in der immer weniger Menschen wohnen wollen. Sogar die Autobahn rechnet sich wegen zu geringen Verkehrsaufkommens nicht mehr. Überall werden Schulen geschlossen, auch im Westen. Halb Niedersachsen steht schon leer. Dass die Politik es in der surreal nahen Zukunft, in welcher der Roman angesiedelt scheint, längst aufgegeben hat, sich um die entvölkerten Landstriche zu kümmern, mögen ihr andere vorwerfen; Inge Lohmark ist es gleich. Mit der scharfen innerartlichen Konkurrenz ist es bei so wenigen Wettbewerbsteilnehmern ohnehin bald vorbei, und vielleicht ist das gar nicht so schlecht. Dass die überlieferten Gesetzmässigkeiten nicht mehr greifen, machen ihr auch andere deutlich, zum Beispiel ihre Kollegen: „Klar sind die Alten die Zukunft. Schon allein wirtschaftlich. Der einzige Markt, der wächst.“
Es ist ein umgekehrter Bildungsroman, den Judith Schalansky hier präsentiert, ein kleines antidarwinistisches Manifest. „Wer sagte, dass Entwicklung überhaupt etwas Gutes war?“ Die Giraffe mag sich durch ihr ewiges Recken und Strecken nach den Blättern einen langen Hals und ein starkes Herz dazu erworben haben, aber Inge Lohmark ist es schliesslich müde, sich den Umständen anzupassen. „Höher, schneller, weiter. Der Hals der Giraffe. Das Wasser bis zum Hals. Die Kirschen auf den obersten Ästen, die Gletscher Grönlands. Sie brauchten uns nicht.“
Figuren:
- Inge Lohmark: Hauptfigur des Bildungsromans, Lehrerin
- Wolfgang Lohmark: Mann von Inge, züchtet Strausse
- Claudia: Tochter, lebt in Amerika
- Erika: Schülerin zu der sich Frau Lohmark hingezogen fühlt
- Die Schwanneke: Lehrerkollegin mit einem anderen pädagogischen Ansatz
- Knatter: Ehem. Sozialkundelehrer, nun Schuldirektor
- Thiele: Altkommunist und Geschichtslehrer
- Meinrad: Mathematik Lehrer, ehem. aus dem Westen
- Jennifer, Saskia, Laura, Tabea, Ellen, Ferdinand, KGräfin 3n, Paul, Tom, Annika, Jakob: Schüler der Klasse
- Hans: Bekannter im Dorf
- Marie Schlichter: Arzttochter, wohnt im Dorf
- Lilo Herrmann: Volksheldin der DDR, die Schule an der Inge Lohmark unterrichtet, trug ursprünglich ihren Namen
Über die Autorin
Judith Schalansky, geboren 1980 in Greifswald, studierte Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign, unterrichtete Typografische Grundlagen an der Fachhochschule Potsdam und lebt heute als freie Schriftstellerin und Buchgestalterin in Berlin. 2006 veröffentlichte sie ihr typografisches Kompendium »Fraktur mon Amour« (Verlag Hermann Schmidt Mainz). 2008 erschien ihr literarisches Debüt, der Matrosenroman »Blau steht dir nicht« (mare). Für ihren »Atlas der abgelegenen Inseln« (mare, 2009) wurde sie mit dem 1. Preis der Stiftung Buchkunst ausgezeichnet. Im Herbst 2011 erschien ihr Bildungsroman »Der Hals der Giraffe« im Suhrkamp Verlag, der 2012 wieder zum »Schönsten deutschen Buch« gekürt wurde. Judith Schalanskys Bücher sind in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Seit dem Frühjahr 2013 gibt sie im Verlag Matthes & Seitz Berlin die Reihe NATURKUNDEN heraus.
2009 Aufenthaltsstipendium Villa Aurora, Los Angeles
2010 1. Preis der Stiftung Buchkunst für den Atlas der abgelegenen Inseln
2010 Aufenthaltsstipendium Künstlerhaus Lukas, Ahrenshoop
2011 Nominierung für den Deutschen Buchpreis (Longlist)
2012 Förderpreis zum Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg
2012 Spycher Literaturpreis Leuk, gemeinsam mit John Burnside
2012 Comburg-Literaturstipendium, Schwäbisch Hall
2012 1. Preis der Stiftung Buchkunst für Der Hals der Giraffe
2013 Förderpreis zum Lessingpreis des Freistaates Sachsen
2013 Märkisches Stipendium für Literatur
2014 Mainzer Stadtschreiberin
2014 Preis der Literaturhäuser
2015 Droste-Preis
Quelle: http://www.literaturport.de/Judith.Schalansky (eingesehen am 22.9.15)
Diskussion zum Thema
Gräfin 1 verteilt uns die Unterlagen zum Buch. Mit dem Buchcover gewann die Autorin übrigens einen Preis. Aber das gilt nur für das Hardcover, unsere Ausgabe ist davon nicht betroffen. Sie stiess zufällig auf diese Info bei Recherchen zum Buch.
Gräfin 1: Sie las das Buch mit sehr viel Vergnügen. Das Buch hatte zwar Längen, aber doch war dieser Bildungsroman speziell. Die Ausschweifungen über die Erblehre und den Darwinismus war für sie ok. Die Sprache fand sie wahnsinnig schön, die Geschichte skurril. Die Stimmung in sich war schräg. Zwar war die Inhaltsangabe reisserisch, aber sie entsprach nicht wirklich der Geschichte. Der Plot wies spannende Gedanken auf, aber die Protagonistin war unglaublich abgestumpft. Gräfin 1 las das Buch mit Vergnügen, es war eine Bereicherung für sie. Es hat ihr gefallen.
Gräfin 3: Ihr gefiel das Buch ebenfalls sehr gut. Die Frau hat sich das Leben eingeteilt in Schablonen. Alles war für die Protagonistin biologisch erklärbar. Sie geht über Leichen, aber das ist der Darwinismus. Zynisch, bissig, menschenverachtend. Der Stil war amüsant, im realen Leben fände sie es nicht lustig. Die Hauptperson entwickelte als erstes für Erika Gefühle. Sie war das Opfer ihrer Gedanken. Fühlte sich als Betroffene, und war konsequent in ihren Handlungen. Am Schluss scheitert sie, die wird entlassen.
Gräfin 4: Sie konnte das Buch nicht lesen. Es brachte ihr nichts. Schräge Sätze, aber einzelne Szenen blieben hängen. Der Stil sprach sie nicht an. Das Buch nervte sie. Es gefiel ihr nicht. Sie konnte deswegen auch nicht anstreichen. Aber quer hat sie es durchgemacht. immer mit dem Gedanken: Komm doch endlich auf den Punkt! Ein ganz unschönes Bucherlebnis.
Gräfin 2: Zu Beginn war es auf dem Weg zu einem 6-Krönchen Buch, so gut hat ihr der Einstieg gefallen. Brillant, interessant und nichts Überflüssiges. Super! Plötzlich gab es einen Knick, es war so traurig. Die Frau war gefangen in der Biologiegeschichte. Der Schluss ging gar nicht. Die Geschichte mit der Tochter ist tragisch, aber sie passt. Das Erlebnis mit der Schülerin war halt so… aber der Schluss hatte einen bitteren Nachgeschmack. Sie hätte gerne etwas Positives gehabt. Aber der Ost-West-Gedanke war spannend.
Gräfin 6: zu Beginn war sie ebenfalls total begeistert. Es hat angefangen wie ein Knaller, aber es kippte. Die Autorin hat einen zugetextet, wusste extrem viel. Aber als Leserin wird es einem zu viel. Es ist nur noch technisch, brillantes Handwerk. Alles kam vom darwinistischen Gedankengut. Es wurde in müssen, das Buch zu lesen. Ein Happyend wäre unpassend gewesen, aber erwünscht. Die Sicht der Dinge, fehlende Empathie, wie sie das Leben wahrnahm, einfach so, erklärbar durch Biologie. Die Illustrationen oben an der Seite, alles lief durch dasselbe Raster. Viele Smileys zu Beginn
Gräfin 5: Sie hat sofort zu lesen angefangen, hat das Buch sogar dem Deutschlehrer weiterempfohlen. Später begann sie es zu hassen mit den vielen Gedanken der Autorin zugeprügelt zu werden. Das Buch liess keinen Platz für eigene Gedanken. Es hat sie deswegen auch nicht berührt. Die Geschichte mit Erika, dem Heidekraut, war schräg. Es muss etwas aufbrechen, dachte sie. Mit der Zeit wurde sie nicht mehr neugierig. Sie mag es nicht so, wenn man sich keine eigenen Gedanken machen kann. Gegen den Schluss ist das Buch total abgefallen. Für einen Bildungsroman ist es zu wenig Entwicklung. Die Hauptperson ist alt und verbraucht. Von daher passt das Ende. Die Grafiken oben an der Seite fehlen beim E-Book.
Zitate
Gräfin 2 |
S. 8 |
„In der Natur hatte alles seinen Platz und wenn vielleicht auch nicht jedes Lebewesen, so doch zumindest jede Art ihre Bestimmung: fressen und gefressen werden. Es war wunderbar.“ |
Gräfin 3 |
S. 42 |
„Freiheit würde überbewertet. Die Welt war entdeckt, die meisten Arten bestimmt. Man konnte getrost zu Hause bleiben.““ |
Gräfin 1 |
S. 70 |
„Der Mensch war ein flüchtiges Vorkommnis auf Proteinbasis.“ |
Gräfin 5 |
S. 123 |
„Was man alles nicht mehr sagen durfte: Neger, Fidschis, Zigeuner, Zwerge, Krüppel, Sonderschüler. Als ob damit irgendwem geholfen wäre. Sprache war doch dazu da, klarzumachen, was gemeint war.“ |
Gräfin 4 |
S. 135 |
„Mal sehen, ob wieder ein Kind dabei war, das danach keinen Vater mehr hatte.“ |
Gräfin 6 |
S. 217 |
„Vollkommenheit mochte angestrebt sein, aber vorgesehen war sie nicht.“ |
Bücher
-
Fraktur mon Amour, 2006, Hermann Schmidt Verlag, Mainz
-
Blau steht dir nicht, Matrosenroman, 2008, Verlag Mare, Hamburg
-
Atlas der abgelegenen Inseln, Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde, 2009, Verlag Mare, Hamburg
-
Der Hals der Giraffe,, Bildungsroman, 2011,Verlag Suhrkamp, Berlin 2011