Bewertung: 5

Lorenz Stäger – Der Kammerdiener

Bewertung: 5 Kronen

 

Es ist nicht weiter schlimm für Hans Keusch, als der Pfarrer und der Lehrer ihm nahelegen, mit dem Schreiben und Rechnen werde es nichts mehr, er solle doch die Schule abbrechen und lieber Geld verdienen gehen. Der Hansli ist nicht gerne in die Schule gegangen, aber jetzt darf er in der Ziegelei arbeiten gehen, ein bisschen weg von zu Hause, eigenes Geld erarbeiten und dieses stolz dem Vater heimbringen, das gefällt ihm gut. Die arme Bauernfamilie kann jeden Rappen brauchen, um die hungrigen Mäuler der Kinder zu füttern. Bald darf er mit einem Händler mitfahren, noch weiter in die Welt hinaus und als Schuhputzer landet er schliesslich gar in einem Hotel. Im Welschland lernt er flugs die französische Sprache, er hat Talent, die würden staunen zu Hause, wie begabt und fleissig er ist der Jean, so heisst er nun in Neuchâtel und er darf bald sogar Kellnern, steigt auf zum Garçon, dann Premier Garçon und er kann immer mehr Geld sparen, um es heimzuschicken. Die Frauen, die haben es in sich, Jean Keusch macht seinem Namen keine Ehre, er verliert Kopf und Unschuld schnell bei jungen Frauen, das Beichten hilft da wenig und sein Herz wird anfänglich auch verletzt. Aber Jean weiss sich zu helfen, er bestimmt die Namen der Kühe, die sein Vater mit seinem Geld kaufen kann und so findet er rasch wieder Ruhe, indem er einfach den Kühen die Namen seiner Liebschaften gibt. Besonders beeindruckt hat den Jüngling in der französischen Schweiz der Besuch des Schahs von Persien, Naser ed Dim, im Jahre 1873. Die Reiselust, die steckt im Jean und auch der Fleiss und das Glück, er kommt noch weit herum in der Welt, sehr weit. Marseille hält Abenteuer für ihn bereit, als Kammerdiener in London lernt er rasch auch englisch, doch auch Kairo, Batavia, Singapur und weitere exotische Orte erobert der einfache Bauernsohn mit Geschick und steigt weiter auf. Er begegnet grandiosen Zeitgenossen; Rousseau, Diderot, Jules Verne, Karl May und dem Pianokönig Steinway um nur einige zu nennen. Aber er erlebt auch Schlimmes, den Tod seiner Geliebten Frau, Krankheiten wie der Ruhr oder der Cholera. Doch die Briefe, die unser John, Jean oder eben Hansli heimsendet, die berichten von seinen eigenen Heldentaten. Es ist immer ein Spektakel, wenn etwa in der Heimat im Ochsen am Stammtisch vom Hansli erzählt wird und da ist die Rede von manchem Abenteuer, wie etwa demjenigen des ruhmreichen Sieges gegen die Piraten, die es zu besiegen galt. Ja, er ist ein Held, der Hansli, und wenn er nicht gestorben ist, dann erlebt er immer noch die unglaublichsten Abenteuer.

Über das Buch

Als Basis dient das faszinierende Leben von Josef Leontius Koch, genannt Lunzi (Originalfoto auf Umschlag), 1854 im aargauischen Villmergen geboren, arme Kleinbauernfamilie, für die sieben Kinder zwei Betten: eines für die drei Mädchen, eines für die vier Buben. Abends Strohflechten bei Kienspanlicht, später mit Petrollampe. Nach sechs Jahren Schulbesuch entlassen: „Schreiben und lesen kannst du sozusagen nicht, doch wozu brauchst du das später?“

Schuhputzer im Hotel Löwen in Aarau, Kellnerlehrling (Piccolo) in Neuchâtel, Kellner in Genf (Hôtel des Bergues), als u.a. Schah von Persien absteigt. Oberkellner in Marseille, dann Berufswechsel zum Kammerdiener, zuerst in London, dann Paris usw.

Mit dem französischen Konsul Graf Arthur de Pourtalès-Gorgier nach Batavia, erlebt Ausbruch des Krakatau. Die Gattin des Konsuls ist eine attraktive Amerikanerin und intensive Liebhaberin, die u.a. in Anekdoten aus dem Sezessionskrieg und in Büchern verewigt worden ist. Nächste Station Hawaii, mit dem französischen Konsul Marie Gabriel Bosseront d’Anglade. Lagerkoch bei einer atronomischen Expedition. In den 1890er Jahren beim Pianokönig William Steinway (mehrfach in dessen Tagebüchern zu finden) in New York (dessen luxuriöse Villa in Astoria / Queens steht noch, unbewohnt; ich habe sie im Mai aufgesucht und fotografiert). Begegnet u.a. dem Pianisten Paderewski. Später in Philadelphia beim Pharma-Industriellen Frederick Stearns, mit häufigen Reisen, u.a. bis nach Khartum.

Weitere Stationen u.a. beim französischen Konsul auf Kuba; begleitet eine Heiligland-Reise mit Schweizer Pilgern: lebt und arbeitet während des Ersten Weltkriegs bei einem Bauern in der Provence, nachher einige Jahre Italien, in hohem Alter noch Kammerdiener bei einem siamesischen Prinzen in Südfrankreich. 1947 gestorben im Altersheim Gnadenthal (heute Reusspark, Niederwil).

Soweit zur echten Biografie. Quellen sind nebst mündlicher Überlieferung ein Radiovortrag, den mein Vater Robert Stäger 1946 im Rahmen seiner regelmässigen Sendungen (Radio Beromünster damals!) gehalten hat, weiter eine 26-seitige Biographie, ebenfalls von Robert Stäger, veröffentlicht im Buch „Meine Heimat“, Aargauisches Jungbürgerbuch, Aarau 1960 sowie eine Doppelseite in der Schweizer Illustrierten (1942): Ich war Kammerdiener auf Hawaii, Tatsachenbericht.

Die Quellen-Texte, damals noch ohne Hilfe des Internet verfasst respektive vom bereits sehr bejahrten „Lunzi“ erzählt, enthalten nachweisbar viele Fehler und Ungenauigkeiten. Nachforschungen im Internet haben mir unerwartete und oft verblüffende Resultate gebracht, z.B. die mehrfache Erwähnung unseres Kammerdieners in damaligen Zeitungen von Hawaii oder ein Foto des Expeditionsberichtes, wo er als Koch deutlich zu erkennen ist, oder eben in den Tagebüchern von Steinway. Mehrfach habe ich solche originale Erwähnungen in meinem Buch verwendet resp. wörtlich zitiert.

Mit schriftstellerischer Freiheit und einem Augenzwinkern habe ich zusätzliche Begegnungen mit bekannten Persönlichkeiten eingebaut, Liebesaffären und dazu einen überraschenden Einstieg ins Buch geschaffen, korrespondierend mit einem überraschenden Ende. Das Umfeld bei erfundenen Begegnungen mit weltbekannten Persönlichkeiten ist aber exakt und bis ins letzte Detail recherchiert, d.h. sie hätten durchaus so stattfinden können.

Über den Autor

Lorenz Stäger wurde 1942 geboren und ist Kantonsschullehrer. Er hat als Kulturattaché in Kairo gearbeitet und dann als Lehrer. Sein letztes Buch ist der Kammerdiener.

Diskussion zum Thema

Gräfin 6: Sie hat Jean geliebt und hat das Buch mit grossem Vergnügen gelesen. Es war leiser Humor und nicht Schenkelklopfer. Ihr gefiel die Verbindung von Reisen und der Rückkehr an den Stammtisch und wie dieser Stammtisch am Leben von Jean teilgehabt hat. Die Leute daheim waren neidlos, ohne böse Gedanken. Jean war immer ein Teil des Dorfes, auch bei Abwesenheit. Er ist ein Held. Seine Geschichte war sehr unterhaltsam, kurzweilig. Eine kleine Geschichtslektion.

Gräfin 4: Sie fand das Buch genial von vorne bis hinten. Sie konnte sich die Leute gut vorstellen, war mittendrin. Die Frau am Stammtisch kam ihr vor wie die Frauen in Herbstzeitlosen. Es war sehr unterhaltend. Dass die Frau gestorben ist, stimmte für sie. Das hätte nix werden können. Der Schluss hat ihr gefallen. Sie war froh, dass nicht alles Geld verteilt war. Grossmutters ewiges „Versündige dich nicht“ hätte gelangt nur 1 x. Über Jean wurde immer erzählt. Er ist einer, der’s geschafft hat.

Gräfin 2: Sie ist nicht so euphorisch. Das Buch habe sie in 1 x durchgelesen. Die Sprache habe ihr extrem gut gefallen. Das Treffen mit den ganzen Persönlichkeiten war ihr zuviel, der Bogen wurde überspannt. Insgesamt war es eine runde Geschichte über einen Menschen mit ungünstigen Startverhältnissen, der die Neugierde aufs Leben behalten hat. Gräfin 2 hat oft gelacht oder geschmunzelt. Eine Woche später hat sie die Hälfte der Geschichte schon wieder vergessen. Sie würde das Buch weiterempfehlen, obwohl ihr Churchill auf die Nerven ging. Das Buch hat keine Saite in ihr anklingen lassen. Die Sprache hat ihr aber sehr gefallen.

Gräfin 1: Auch sie empfand das Buch als runde Sache. Geschichtliche Sachen mag sie eigentlich nicht. Aus der Perspektive des Dieners die Welt anzuschauen, findet sie gelungen. Es war eine glaubhafte Entwicklung vom Bauernbub zum Weltenbummler. Umgangsregeln, die er gelernt hat. Sie kann sich vorstellen, dass ein Mensch so gelebt hat. Die verschiedenen geschichtlichen Bezüge fand sie spannend. Sie hätte sich mehr Herausforderung gewünscht. Die Grossmutter mit ihren Sprüchen hat ihr gefallen; eine weise Frau. Kleine Feinheiten haben das Buch genussvoll gemacht.

Gräfin 3: hat das Buch sehr gerne gelesen, ist mit Jean gern um die Welt gereist. Die einzelnen Stationen, wo Jean hingereist ist, fand sie spannend. Es nervt sie, dass er zu Forrest Gump wurde, wieder und wieder traf er berühmte Persönlichkeiten, das fand sie zu viel des Guten. Was ihr sehr gefallen hat, war die Art, wie die Familie gelebt hat, nicht fluchen (Kupferhammer!). Sie hat „Liebt ihr Bruder Fisch, Madame?“ gelesen, auch unterhaltsam.

Gräfin 5: (schriftlich, da an Sitzung abwesend): Herzlichen Dank für dieses köstliche Buch. Es war ein ausserordentliches Vergnügen, Hansli Keusch, oder Schang, oder Jean oder Louis oder Leonce, den etwas dummen Buben kennen zu lernen und mit ihm 50 Jahre um die Welt zu reisen.

Es ist grossartige Fabulierkunst, die Lorenz Stäger uns da vorlegt. Die reine Lust am Geschichten erzählen. Wie er den Buben in die Welt hinaus schickt, ihn immer weitere, grössere Abenteuer erleben lässt. Der Junge reift zum Mann, und dass die Kühe zu Hause im Stall die Namen seiner Verflossenen haben, fand ich einfach eine tolle Idee

Mir gefiel auch, wie Stäger immer wieder den Scheinwerfer des Geschehens aus der grossen Welt zurück ins Dorf bringt, an den Stammtisch, ins Rössli. Dort sind die Figuren immer die gleichen, auch sie haben etwas erlebt und zehren einleben lang davon. Das hält sie aber nicht davon ab, lebhaft an Schangs Abenteuer teilzuhaben. Diese Stammtisch-gespräche hatten zum Teil recht tiefgründige Ansätze.

Die Weltgeschichte wird immer anhand der Grossen und Mächtigen, der Reichen und Schönen erzählt. Hier kommt mal einer aus der vermeintlich 2. Reihe, ein einfacher Diener als Hauptperson daher. Das der sogar dem Winston Churchill für seine Blut-Schweiss-und Tränen-Rede zu Beginn des 2. Weltkrieges an das englische Volk gibt, ist einfach der Hammer! (S. 191)

Die gewählte Perspektive ergibt ganz andere Einblicke in wichtige Geschehnisse des ausgehenden 19. Jahrhunderts. So erleben wir den Bau des Gotthardtunnels, den Vulkan-ausbruch in Java, die Eröffnung der Weltausstellung in Paris mit dem Eiffelturm und auch den Aufstand in Kuba. Ganz beiläufig begegnet Schang auch immer wieder ganz famosen Persönlichkeiten, denen er sich nicht aufdrängt, mit denen er aber wunderbar prahlen kann, zu Hause, am Stammtisch.

Die Schweiz hat nun ihren eigenen Forrest Gump!

Die Sprache es Autors ist kurzweilig, eigen, von Helvetismen und altertümlichen Wörtern gespickt, aber nie in einem anbiedernden schweizerisch-niveaulosem Blickdeutsch. Mir hat der Stil sehr gut gefallen und ich fand ihn äussert passend zur Geschichte, die ja von einem einfachen Bub vom Land erzählt, dem der Lehrer nach sechs Jahren Schule sagt, es habe keine Wert, mehr werde er wohl nicht lernen. Wie der sich geirrt hat. Der Junge hat ganz mächtig viel gelernt! Sprachen, Frauen, Kämpfen, Kochen, Bedienen, Servieren, Zuhören

Stäger schreibt flüssig, unterhaltsam, intelligent, mit Wortschöpfungen, alten Wörtern, mit lustigen Einfällen und auf S. 211 sogar mit einem Stilmittel des epischen Theaters à la Brecht: „Natürlich, für unsere Geschichte wäre dies hübsch gewesen: drei Generationen mit abstehendem linken Ohr Aber die Natur macht nicht immer, was man möchte. „ Toll!

Wörter, die mir super gefallen haben:

Das Bongschuuren

Die Grabbeterin

Idée schnapsée

Zitate

Gräfin 4

S. 207

Himmlisch sind ihre Gedanken

Gräfin 6

S. 63

Die Gouvernante hiess

Gräfin 1

S. 226

Es ist der Oncle Jean. Der Schang aus ….

Gräfin 5

S. 33

…eine unerschöpfliche Fundgrube an Anektoden, die sich von selbst verästeln und stetig weiterwachsen

Gräfin 2

S. 73

Aber dann kommt ihm die Malaria zu Hilfe.

Gräfin 3

S. 153

Er ist neugierig von Berufes wegen.

Zum Weiterlesen

Nur wenn die Löwen nicht beissen

Kinder, Camper und Gelehrte

Niese nie im Beichtstuhl

Alexander der Kleine

Aber, aber Frau Potiphar

Liebt Ihr Bruder Fisch, Madame?