Bewertung: 6

Robert Seethaler – Der Trafikant

Bewertung: 6 Kronen

 

Franz Huchel wächst ohne Vater auf, der kurz vor seiner Geburt verstarb. Als auch der Liebhaber seiner Mutter stirbt, der ihnen finanzielle ab und zu ausgeholfen hat, wird er mit 17 Jahren nach Wien zu Otto Trsnjek, einem Trafikanten, in die Lehre geschickt. Wir schreiben das Jahr 1937. Franz ist schüchtern, etwas naiv und lernbegierig, Otto nimmt ihn unter seine Fittiche. Jeden Tag muss er die Zeitungen eingehend studieren, denn ein Trafikant muss Bescheid wissen. Er muss auch die Kunden jederzeit beim Kauf von Tabakwaren beraten können.

Einen Kunden bedient Trsnjek besonders ehrerbietig. Es ist Sigmund Freud, der Deppendoktor, sogar Franz hat bereits von dem berühmten Psychoanalytiker gehört. Da Freud seinen Hut vergessen hat, rennt Franz ihm nach. Ab jetzt holt sich Franz nun bei grossen und kleinen Problemen Rat beim grossen Vorbild. Er erhält den Rat, viel in der frischen Luft zu sein, sich zu amüsieren und sich ein Mädchen zu suchen. Das befolgt Franz bei nächster Gelegenheit. Er geht auf den Prater und verliebt sich auf den ersten Blick. Blöd, dass er vergisst, sie nach dem Namen zu fragen. Er sucht zwei Monate nach ihr, nachdem sie ihn einfach stehen gelassen hat. In einem Heurigen erfährt Franz an Weihnachten endlich den Namen und die Adresse. In einem schäbigen Zimmer findet Franz Anezka. Sie lässt sich von ihm zum Essen einladen und führt ihn dafür in die körperliche Liebe ein. Erst Wochen später trifft er sie wieder. Als er ihr an einem Morgen einen Heiratsantrag machen will, ist sie bereits verschwunden. Er findet sie später wieder in einem Nachtclub, wo sie aufreizend und halbnackt tanzt. Das gefällt Franz gar nicht, dass sie sich anderen Männern so zeigt.

Politisch passiert einiges. Am 12. März marschieren die Deutschen in Österreich ein, und am nächsten Tag erfolgt der „Anschluss“ ans Deutsche Reich. Nun ist es auch in der Trafik nicht mehr gemütlich. Das Häuschen wird verschmiert, möglicher Täter ist der Nachbar, der Metzger. Eines Nachts zertrümmern die Nazis den Trafik, Otto wird am Morgen danach abgeführt. Angeklagt wegen Verkaufs von Pornografie. Er wird abgeführt, Franz führt die Trafik weiter. Er setzt alles wieder in Stand und klebt jeden Morgen Zettel mit den Niederschriften seiner Träume ins Schaufenster. Die Leute kommen vorbei und lesen interessiert und verwirrt. Als er sich auf der Polizeiwache nach Otto erkundigt, erhält er keine Auskunft. Er steht ab da jeden Tag dort, bis man genug von ihm hat und ihn brutal hinaus auf die Strasse wirft. Später erhält er ein Paket mit dem Inhalt von Ottos Habseligkeiten, darunter seine Hose, die er trug bei der Verhaftung. Otto ist tot. Als er bei Anezka Trost sucht, stellt er fest, dass sie kein Interesse mehr an ihm hat und mit einem SS-Offizier liiert ist.

Zerknirscht und traurig erfährt er auch, dass Sigmund Freud die Stadt in Richtung London verlassen wird. Franz kann sich noch heimlich von ihm verabschieden. In dieser Nacht geht Franz zu den drei Fahnenmasten vor dem Gestapo-Hauptquartier, holt die mittlere der drei Hakenkreuzfahnen herunter und hisst stattdessen Otto Trsnjeks einbeinige Hose. Am nächsten Morgen wird Franz von drei Gestapo-Männern in der Trafik abgeholt. Sieben Jahre später, am 12. März 1945, kommt Anezka zur Trafik und schaut durch die Scheiben hinein. Es ist niemand da. Aber am Schaufenster klebt noch der Rest eines Zettels. Den nimmt sie mit.

Über den Autor

Robert Seethaler wurde am 7. August 1966 in Wien geboren und wuchs auch dort auf. Er hat einen angeborenen Augenfehler (minus 19 Dioptrien) und besuchte deshalb eine Grundschule für Sehbehinderte. Robert Seethaler besuchte die Schauspielschule in Wien und wirkte in einer Vielzahl von Produktionen für Kino und Fernsehen sowie an Theatern in Wien, Berlin, Stuttgart und Hamburg mit. Er ist ein daneben auch Schriftsteller und Drehbuchautor. Der Film nach seinem Drehbuch Die zweite Frau wurde von Hans Steinbichler realisiert, hatte seine Premiere im Rahmen des Münchner Filmfestes und erhielt 2009 drei Grimme-Preise

Dem Fernsehpublikum ist er als „Dr. Kneissler“ in der Serie Ein starkes Team bekannt. Er lebt in Berlin-Kreuzberg und Wien.

Diskussion zum Thema

Gräfin 5: Ihr wurde das Buch von einem Deutschlehrer am Schulzentrum empfohlen. Sie verteilt Unterlagen und wir gehen die Zusammenfassung zusammen durch und besprechen das Leben des Autors soweit bekannt. Sie brachte auch, in Anlehnung an das Gedicht auf Seite S 102, einen kurzen Exkurs über Flüsterwitze im dritten Reich mit. Gräfin 5 wollte eigentlich erst mal nur im Buch schnuppern. Die Sprache und die Geschichte fesselten sie aber dermassen, dass sie es nicht mehr aus der Hand legen konnte. Ihr hat es sehr gefallen, vor allem die Sprache und der Stil des Autors haben sie begeistert. Robert Seethaler nimmt die Leserinnen ernst, verfügt über einen sensationellen Wortschatz, braucht kaum Wortwiederholungen und kann im Stil variieren. Beim Lesen fand sie zahlreiche Zitate. Der Inhalt, wie der junge naive „Burschi“ nach Wien kommt, und dort zum Mann heranreift, begeisterte sie. Die schönen Briefwechsel zwischen Mutter und Sohn konnte sie gut nachvollziehen, da ihr gleichaltriger Sohn im Moment auch weit weg ist und die Kommunikation vor allem schriftlich abläuft. Man muss die Jungs erwachsen werden lassen. Das Buch war ein Hochgenuss, keine Seite war zu viel, keine Person überflüssig, keine Beschreibung zu langweilig. Besonders freute es sie, dass sie Sigmund Freud wieder begegnete, als 20 jährige las sie eine fast 800-seitige Biographie über ihn (Der Seele dunkle Pfade, Irving Stone) , und genauso hat sie sich seither Freud im Alter vorgestellt. Gezeichnet von Krankheit, ein bisschen verbittert, aber intellektuell fit und aufgeschlossen. Der Schluss mit dem Zettel machte sie ein wenig ratlos. Das Ende möchte sie nicht so haben und bildet sich ein, dass es ja nicht ganz endgültig sein muss und lässt einen Spalt offen, um sich selber auszudenken, wie es gewesen sein könnte.

Gräfin 2: Schon lange hat sie kein Buch mehr mit so viel Genuss gelesen. Seethaler hat eine wunderbare Art, eine Geschichte zu erzählen. Sie ist einfach, aber hat Tiefgang. Bei den Beschreibungen laufen die Bilder wie im Kino ab. Die Story ist gut durchkonstruiert. Oft wurde sie an ihre Oma aus Böhmen erinnert. Sie schwelgte dabei in Erinnerungen, es kamen ihr viele Geschichten von früher in den Sinn. Sie hatte grösstes Vergnügen beim Lesen. Das Buch hätte noch viel, viel länger sein dürfen. Die spröde Beziehung zur Mutter am Anfang wurde immer enger und herzlicher. Die Distanz hat ihnen gut getan. Sicher hat Franz zu Hause Nestwärme bekommen und so und Selbstsicherheit gelernt. Die Mutter liess Franz in der Ferne erwachsen werden, aus Postkartenaustausch wurde ein Briefwechsel. Eigentlich ist die Mutter eine der wichtigsten Personen im Buch.

Gräfin 4: Als erstes muss sie gleich loswerden, dass die Aufmachung des Buches einfach der Hammer ist. Die Geschichte darin nahm sie von Anfang an gefangen. Es hat eine schöne Handlung und ist super geschrieben. Man kann richtig mitgehen. Die Gewalt- und Kriegsszenen sagten ihr nicht so zu, tun sie nie. Sie fragte sich, war das wirklich so oder hat er dazu erfunden? Ein paarmal hat sie sich über das „Burschi“ geärgert. Bei ihr kam das so an, dass er nicht ernst genommen wird. Gegen Ende des Buches vermisste sie die Leichtigkeit des Buches, die Leichtigkeit, die am Angang da war. (Gräfin 2 schiebt ein, dass „Burschi“ durchaus auch liebevoll gemeint sein kann) Es ist eine geniale Geschichte. Der Schluss gefällt ihr ausgezeichnet, man weiss ja, was passierte, wenn einer abgeholt wurde. Die Mutter hatte am Ende ein ungutes Gefühl, sie spürte, dass Franz etwas passieren wird. Aber mit dem Zettel, den Anezka fand, kam es zu einem versöhnlichen Abschluss. Von vorne bis hinten eine runde Sache.

Gräfin 3: Um es gleich vorne weg zu nehmen, auch ihr hat das Buch super gefallen. Sie hat es früh und schnell gelesen. Erst wollte sie nur ein bisschen schnuppern, aber es hat ihr den Ärmel reingenommen und sie konnte es nicht mehr aus der Hand legen. Sie musste sich danach auch in die Geschichte Österreichs einlesen, das alles hat sie nur am Rand gewusst und fand es spannend, über den Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich mehr zu erfahren. Zudem gefiel ihr die Sprache ausserordentlich gut. Es war ein Entwicklungsroman. Franz wurde sehr schnell erwachsen in Wien, er galoppierte fast durch sein junges Leben. Ihr gefiel der Schluss, weil es so viele Menschen damals, gab die einfach verschwunden sind, ist es stimmig. Versöhnlich stimmte sie, dass Anezka so zärtlich mit dem restlichen Zettel umging, den sie noch fand. Jetzt hätte sie so leben können, wie das herz es wollte. Vorher suchte sie Schutz und Protektion bei den Machthabern und liess sich deshalb auch mit einem SS-General ein. Sie hat ihn gern gehabt und wollte ihn nach dem Krieg aufsuchen. Ach ja, über Freud und seine Art zu denken hätte sie gerne noch mehr erfahren, aber es war ok so, wie es war. Tolles Buch. Wird es jederzeit weiterempfehlen.

Gräfin 1: Sie hat das Buch vor der Abreise gelesen, ist also auch schon etwas länger her.

Grundsätzlich hat ihr das Buch gut gefallen. Die Sprache war sehr bildhaft und flüssig zu lesen und sie mag das österreichische Ambiente eh sehr. Mit Franz ist sie auch warm geworden, obwohl er irgendwie distanziert blieb. Zwischendurch hatte das Buch Längen und es hätte ihm gut getan, etwas kompakter und kürzer zu sein. Die Begegnung mit Freud fand sie zwar witzig, aber irgendwie auch an den Haaren herbei gezogen und die „Liebesgeschichte“ fand sie doch arg naiv. Dass Franz am Schluss dann „Selbstmord“ beging, fand sie etwas heftig und irgendwie melodramatisch. Und der Schluss, tja, der Schluss…. dass Anezka dann nach 7 Jahren dort vorbei geht, noch ein Fetzen Zettel aussen (!!) an der Trafik hängt und sie ihn mitnimmt, fand sie dann so kitschig, dass es bei ihr ein Krönchen raus gehauen hat!

Gräfin 6: Danke für dieses kleine, kostbare Büchlein. Es kommt nicht nur sehr stylisch daher, auch inhaltlich ist dieses Buch von A bis Z ein Genuss. Robert Seethaler überzeugte sie mit einer wunderbar lebendigen Sprache, die Charaktere sind eindringlich beschrieben mit viel Tiefgang. Die Entwicklung des jungen, naiven und unschuldigen Franz vom Dorf hin zu einem Mann, der gezwungen wird, auf eigenen Beinen zu stehen ist wirklich sehr gelungen und umwerfend. Man fühlt mit diesem Jungen mit, wenn die Kindheit definitiv zu Ende geht und das hat mich bisweilen melancholisch gestimmt. Die fiktive Begegnung des unbedarften Franz mit Professor Freud fand sie eine gute Idee. Dass Freud hier als altes, niedliches und gebrechliches Männchen dargestellt wird ist der einzige Kritikpunkt. Das war ihr dann doch ein bisschen zu einfach. Die Stimmung in Wien in dieser Zeit ist gut eingefangen, die Bedrohung durch den Faschismus ist spürbar.

Zitate

Gräfin 3 S. 29 Es war eine Ahnung, die da zwischen den vielen Druckbuchstaben herausraschelte, eine kleine Ahnung von den Möglichkeiten der Welt.
S. 84 Rund, sagte Franz, rund, nicht dick.
Gräfin 4 S. 33 Ein guter Trafikant verkauft Genuss und Lust – und manchmal Laster.
Gräfin 5 S. 127 Der Professor hingegen war dermassen klug, dass er sich die Bücher, die er lesen wollte, gleich auch selber schreiben konnte.
Gräfin 1 S. 130 Immerhin ist diese Erkenntnis der erste Schritt im steilen Stiegenhaus der Weisheit.
Gräfin 6 S. 149 Und vom Verkaufsraum drang manchmal leises Rascheln herein. Mäuse vielleicht oder Ratten. Oder die Geschehnisse des letzten Tages, die, bereits zu ihrer eigenen Erinnerungen geworden, aus den Zeitungen herausraschelten.
Gräfin 2 S. 149 Erinnert wird nämlich meistens sowieso nicht die Wahrheit, sondern nur das, was laut genug herausgebrüllt oder eben fett genug abgedruckt wird.

Zum Weiterlesen

Ein ganzes Leben. 2014, ISBN 978-3-446-24645-4