Bewertung: 5

Marianne Fredrikson – Hannas Töchter

Bewertung: 5 Kronen

 

Hanna wurde 1871 geboren. Im Alter von zwölf Jahren kam sie als Magd auf den Hof Lyckan. Dort gab nicht Joel Eriksson, sondern dessen hartherzige Frau Lovisa den Ton an. Ihr Sohn Rickard vergewaltigte die neue Magd, die mit dreizehn von einem Jungen entbunden wurde, den sie Ragnar nannte. Die beiden miteinander verwandten Familien dachten an eine Eheschliessung, damit das Kind nicht in Schande aufwachsen musste, doch Rickard erklärte hochmütig, er wolle weder Bauer werden noch eine Hure heiraten.

Einige Jahre später zog der gut vierzigjährige John Broman aus Värmland in die Gegend. Seine Frau Ingrid und seine Tochter Johanna waren gestorben. Auch sein Vater lebte seit Jahren nicht mehr; seine unausstehliche Mutter regierte die Familie mit fester Hand vom Krankenbett aus. Hanna gefiel ihm und er heiratete sie, obwohl er mehr als doppelt so alt war. John setzte die heruntergekommene Mühle wieder in Gang und nahm sie in Betrieb. Die Arbeit war schwer, Hanna half mit. Sie war daran gewöhnt, dass es im Leben um nichts anderes als Pflichterfüllung ging, auch, dass sich John wie die meisten Männer samstags betrank, fand sie normal. Der war zufrieden mit seiner Wahl und glaubte, eine lange Liste mit Hannas Tugenden aufstellen zu können.

Hannas Eltern starben Mitte der Neunzigerjahre kurz nacheinander. Rickard Joelsson wurde auf einer Bärenjagd in Trösil versehentlich erschossen. Kurz darauf erwürgte Joel Eriksson seine Frau und erschoss sich anschliessend. Ragnar bekam Arbeit bei Hannas Schwager, einem Fischhändler in Norwegen. Obwohl die alte Hebamme Anna davor gewarnt hatte, dass eine weitere Entbindung Hanna töten könnte, wurde sie noch einmal schwanger und gebar 1902 die Tochter Johanna, die von ihrem Vater verehrt und verwöhnt wurde.

Als John starb, verkaufte Hanna den Hof und zog 1911 mit Johanna nach Göteborg, wo Ragnar inzwischen mit einer Frau namens Lisa verheiratet war. Sie hatte einen eigenen Kurzwarenladen in Göteborg. Hanna kam sich in der belebten Stadt, in der elektrisches Licht und Leitungswasser eine Selbstverständlichkeit waren, fremd vor.

Johanna hatte zunächst als Dienstmädchen bei einer gutbürgerlichen Familie in Göteborg gearbeitet, bis der Hausherr ihr Gewalt antun wollte. Danach arbeitete sie als Verkäuferin in einer Delikatessenhandlung auf dem Markt. Einmal kam ihr früherer Arbeitgeber vorbei, erkannte sie jedoch nicht und kaufte für einen Betrag ein, der doppelt so hoch war wie der Monatslohn, den er ihr als Dienstmädchen gezahlt hatte. Durch diesen Vorfall entstand ihr Hass auf das Bürgerliche, und sie schloss sich den Sozialdemokraten an.

In den Zwanzigerjahren lernte sie auf einer sozialdemokratischen Versammlung Arne Henriksen kennen, der Werkmeister auf einer der grossen Werften war. Seine dominante, hochnäsige Mutter weigerte sich, Johanna die Hand zu geben, und sein Vater sass nur still in einer Ecke. Als Hanna schwanger wurde, versprach Arne ihr die Ehe und hielt sein Versprechen auch, obwohl sie im dritten Monat eine Fehlgeburt erlitt. Sie bauten sich ein Häuschen am Meer, und Arne steckte viel Geld in ein Segelboot.

Im Alter von 35 Jahren brachte Johanna eine Tochter zur Welt, die den Namen Anna erhielt. Bis 1943 folgten noch mehrere Fehlgeburten.

Hin und wieder schlug Arne sie. Schlimmer fand Hanna, dass sie das Gefühl hatte, vollständig von ihm abhängig zu sein. Deshalb begann sie wieder ein paar Stunden pro Woche bei Nisse Nilsson zu arbeiten. So verdiente sie wenigstens ihr eigenes Geld. Kummer bereitete es ihr auch, dass ihre Tochter eine Stufe gebildeter und selbstbewusster war als sie.

Hanna starb 1964 mit siebenundachtzig Jahren in den Armen ihrer Tochter. Bald darauf kam Ragnar ähnlich wie sein Vater ums Leben: er wurde bei einer Elchjagd in Halland versehentlich erschossen. Anna promovierte, veröffentlichte ihre Doktorarbeit und wurde Journalistin. Nach einer unglücklichen Affäre mit einem amerikanischen Austauschstudenten und einer Abtreibung lernte sie den Journalisten Rickard Hård kennen. Die beiden heirateten und lebten zusammen in Stockholm. Annas Sohn Peter starb nach vierzig Tagen. Nach der Geburt ihrer beiden Töchter Maria und Malin liess Anna sich scheiden, weil Rickard sie betrogen hatte. Da sie finanziell unabhängig war, konnte sie sich diese Befreiung ohne weiteres leisten. Doch als er von einem Einsatz als Auslandskorrespondent in Hongkong zurückkam und sie um Verzeihung bat, liess sie sich überreden, ihn ein zweites Mal zu heiraten.
Maria und Malin heirateten nicht, aber sie hatten beide ein Kind.

Als Annas Vater Arne einem Herzinfarkt erlag, flog sie von Stockholm nach Göteborg. Ihre Mutter bekam es nicht mehr mit; sie lebte zu diesem Zeitpunkt bereits in einem Heim, weil sie an Alzheimer erkrankt war, nicht mehr sprach und nicht einmal mehr ihre Tochter erkannte.

Im Frühjahr 1986, nachdem sie Fotos von ihrer Grossmutter Hanna und autobiografische Aufzeichnungen ihrer Mutter Johanna gefunden hatte, beschäftigte sich Anna mit dem Leben der beiden und verglich ihr eigenes damit. Sie begann ein Buch darüber zu schreiben.

Über die Autorin

Marianne Fredriksson (* 28. März 1927 als Marianne Persson in Göteborg) war Tochter eines Schiffbauers und einer Hausfrau wuchs in einem proletarischen Milieu auf. Sie war eine schwedische Schriftstellerin und Journalistin. Im Alter von 79 Jahren starb sie an einem Herzinfarkt.( † 11. Februar 2007 in Österskär bei Stockholm)

Nach dem Besuch der höheren Schule arbeitete sie ab 1947 zunächst als Korrektorin, später als Journalistin bei der Lokalzeitung Göteborgstidningen. Hier lernte sie ihren Mann Sven kennen. Als ihre beiden Töchter zwei und sechs Jahre alt waren, zog Marianne Fredriksson 1962 nach Stockholm und arbeitete als Chefredakteurin für ein Einrichtungsmagazin. Sie gründete selber zwei erfolgreiche Zeitschriften. Zwischen 1974 und 1988 war sie ausserdem Redaktionsleiterin in der Tageszeitung Svenska Dagbladet.

Seit ihrem späten schriftstellerischen Debüt im Jahre 1980 mit Evas bok (Eva) publizierte sie 14 Romane, darunter die Weltbestseller Simon och ekarna (Simon) und Anna, Hanna och Johanna (Hannas Töchter). Insgesamt wurden ihre Bücher in 47 Sprachen übersetzt, in 150 Ländern publiziert und weltweit mehr als 17 Millionen Mal verkauft. Eine grosse Leserschar fand sie ausserhalb ihres Heimatlandes vor allem in Dänemark, den Niederlanden und in Deutschland.

Ihre ersten fünf Werke sowie ihr 1997 erschienenes Buch Enligt Maria Magdalena (Maria Magdalena), für das sie ein intensives Quellenstudium betrieb, kreisen um biblische Motive. Später erreichte sie mit gefühlsbetonten Familien- und Generationenromanen aus der Perspektive von Frauen vor allem ein weibliches Publikum. In ihrem Buch Älskade barn (Geliebte Tochter) behandelt sie die Gewalt gegen Frauen inner- und ausserhalb der Ehe. Eines der zentralen Themen in ihren Romanen ist die Freundschaft, die sich oft als beständiger erweist als die Liebe.

Diskussion zum Thema

Gräfin 3: Sie eröffnet die Sitzung und verteilt uns gleich zu Beginn ausführliche Unterlagen zum Buch und zur Autorin. Sie hat zudem einen Stammbaum erstellt, der die Personen des Buches in eine Reihenfolge bringt und auch Zitate aus dem Buch zur Zusammenfassung eingearbeitet. Gräfin 3 erklärt, dass die Autorin speziell darauf hinweist, dass dieses Buch nicht autobiographisch ist.

Sie erläutert, dass es sich um eine Familiengeschichte aus der Sicht der Frauen handelt. Es geht um die schrittweise Emanzipation, die jede der Frauen ein bisschen unabhängiger macht von ihrem Ehegatten. Eigentlich könnte man das Buch umschreiben mit: Entwicklung der Frauen und das Selbstverständnis, dass sie in der Gesellschaft erhalten. Es erzählt die Geschichte der Frauen in Schweden, von der Abhängigkeit zur Selbständigkeit.

Formal war das Buch etwas holprig eingeteilt. Der Wechsel von der Perspektive von Hanna zu Anna, zurück zu Johanna (abgesehen davon, dass die Namen halt schon sehr ähnlich sind), war zeitweise etwas anstrengend.

Der Prolog, die Geschichte von Hanna Bromann und das Zwischenspiel mit Anna ist in der 3. Person geschrieben, nur die Tagebucheintragungen, die von Anna überarbeitet wurden, sind in der Ich-Form abgefasst.

Den starken Frauen standen „böse“ Schwiegermütter gegenüber. Die waren nicht selbständig, doch hatten als Hausdrachen ihre Männer und Familien jeweils im Griff. Und dominierten zu Hause und übten Macht aus.

Die Muster in denen wir leben, müssen nicht für ewig gelten. Man kann sie hinterfragen. Es dauerte auch im Buch einige Zeit, bis sich die Perspektive ändert, die Mutter als Mensch wahrgenommen wird, nach den Beweggründen, dem Warum? gefragt wird. Sie ist froh, dieses Buch vorgeschlagen zu haben und empfand es bereichernd, es gelesen zu haben.

Gräfin 4: Ihr hat das Buch gut gefallen, die Übergänge der einzelnen Kapitel bereiteten ihr etwas Mühe. Die Namen der Protagonistinnen waren ihr zu ähnlich.

Die Ehemänner waren durchwegs schwach; keiner konnte sich richtig von seiner Mutter lösen. Arne gab Johann zu wenig Geld, damit sie ihn nicht dominieren konnte.

Die Vergewaltigung von Hanna war schlimm, nachher war sie eine gefallene Frau, gebrochen vom Schicksal, hat Selbstwertgefühl verloren und wurde als Hure behandelt.

Zwei Werte blieben im Buch bestehen, dazu schauten alle Generationen gleichsam: das Sofa aus Värmeland und die Schatulle mit dem Schmuck. Der Schluss war schön, rund, gmögig, wie bei einem guten Film.

Zur eigenen Familienchronik: Auch Gräfin 4 erfuhr erst an der Beerdigung der Grossmutter, dass diese eine Lehre gemacht hat. Sie hat es auch ganz klar verpasst, Fragen zur Geschichte, Herkunft, zum Leben und der Familie zu stellen. Deshalb bewegte sie das Buch speziell, gerade weil sie selber oft zu wenig hinterfragt. Die Geschichte war gut, dennoch würde sie das Buch nicht weiterempfehlen.

Gräfin 1: Ihr hat das Buch gut gefallen, sie hat es in einem Zug durchgelesen. Es ist schön, aber auch anspruchsvoll, mit Verwirrungen wegen Namen und Rückblenden und dem Perspektivenwechsel. Für sie war das Buch eine Aufforderung, Fragen zu stellen an die Vorfahren, solange sie noch leben und Antwort geben können. Sich mit der eigenen Familiengeschichte befassen, sie erforschen, gerade auch die Frauenlinie. Jede Generation bewertete die vorangegangene und fühlte immer das, wo sie drin stecken als wichtiger und wertvoller. Deshalb ärgerte sie sich etwas über die Journalistin Anna, der es viel zu spät in den Sinn kam, ihre Mutter nach der Vergangenheit auszufragen.

Gräfin 2: Auch sie mühte sich mit den ähnlich klingenden Namen ab, zu dem hat sie die Namen falsch gespeichert. Sie ging davon aus, dass sie immer kürzer werden, also von Johanna zu Hanna zu Anna. Lustig ist, dass die Namen eigentlich nichts miteinander zu tun haben! Johanna wurde nach der ersten (verstorbenen) Tochter von John benannt, Anna nach der Hebamme, die bei Johanna wohnte.

Johanna hatte ein verklärtes Vaterbild (sie verlor ihn, als sie 9 war), sie wusste nicht, dass ihr Vater die Mutter geschlagen hat. Arne schlug Johanna nur zweimal, danach nicht mehr.

Ihr ist zudem aufgefallen, dass die Sprache im Buch einfach war, als es um Hanna ging und immer komplizierter wurde, je gebildeter die Frauen waren.

Kritik: Gewisse Sachen waren nur angetönt, die Hellsichtigkeit der Frauen? Nie wurde speziell darauf eingegangen. Auch der Schluss war ihr etwas zu viel Friede, Freude, Eierkuchen, alles löst sich in Wonne auf. Sie dann auch nicht traurig, von den Personen Abschied zunehmen.

Gräfin 2 entdeckte Parallelen zu den Geschichten ihrer Urahnen. (Ihre Grossmutter wurde auch mit 15 vergewaltigt) Sie hatte aber eine starke Urgrossmutter und Grossmutter.

Gräfin 6: Sie hat das Buch vor einiger Zeit schon fertig gelesen, vor allem der Teil mit Hanna, das karge Leben, ist ihr aber bestens im Gedächtnis geblieben. Hanna hatte das härteste Leben, Vergewaltigung als junges Mädchen, später mit schwerer Hausarbeit, dem gestörten Verhältnis mit ihrer Tochter, welche ihr vorhielt, dumm zu sein, weil ihr die Worte fehlten.

Es ist ein warmherziges Buch, sie hat es sehr gerne gelesen. Ein edles, toll gestaltetes Format und Cover, ein richtig gutes Handtäschlibuch

Die ganze Geschichte war für sie nicht überraschend, sondern zum Teil sehr vertraut. Es könnte auch eine Geschichte der Schweiz sein; es ist auf alle Fälle ein Zeitdokument, sehr spannend erzählt.

Gräfin 5: Ihr hat das Buch bestens gefallen. Sie fühlte sich als Leserin ernst genommen und durchaus auch unterhalten. Es ist anspruchvolle Literatur mit den verschiedenen Perspektiven in der Geschichte. Sie vermisste es ein wenig, nicht mehr über die Geschichte Schwedens zu erfahren. Was ist Wissen? Je mehr Schulwissen wir haben, desto mehr entfernen wir uns von der eigenen Geschichte. Ist Wissen nur Bildung? (Johanna hat durch die Bildung die Beziehung zur eigenen Mutter verloren, weil sie ihr dümmlich und ungebildet vorkam).

Das Buch ist übrigens für Mütter mit Jungen anders zu lesen als für Mütter mit Töchtern, es lässt einem nicht so sehr Teil haben und die Geschichte abstrakter wahrnehmen.

Mit den Hauptpersonen im Buch schloss sie nicht Freundschaft, sie blieb immer aussen vor bei der Geschichte und es fiel ihr nicht schwer, die Personen am Ende des Buches zu verlassen. Der Schluss zog sich etwas dahin und das Interesse war nicht mehr so gross wie am Anfang.

Zitate

Gräfin 3; S. 85: „..sie begriff, dass es die Hoffnung ist, die den Menschen verwundbar macht.“

Gräfin 4; S. 172: „Früher hab ich nicht mal mit der Wimper gezuckt, wenn einer mich Hure genannt hat, dachte sie. Jetzt, wo ich anständig bin, werde ich fuchsteufelswild.“

Gräfin 1; 320: „Man sollte nicht zu heiligen Orten zurückkehren. Das Stadtkind Johanna wurde in einem Kurzwarenladen an der Ecke Haga Nygata und Sprängskullgata geboren.“

Gräfin 6; S. 327: „…dass jeder, der viel Verständnis aufbringt, auch viel aushalten muss.“

Gräfin 5; S. 375: „Ist sie vielleicht auch religiös? – Ich nehme an, denn es war ein Kreuz an der Wand und Jesusbilder. – Das sind die Schlimmsten, sagte Mutter. Die sind böse im Namen des Guten.“

Gräfin 2; S. 467: „ Ich mochte diese moderne Art nicht, Bosheit mit Krankheit zu erklären.“

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Simon